Heute morgen begrüßen uns Sonnenschein und überwiegend blauer Himmel. Wir müssen nicht lange überlegen, was wir mit dem Tag anstellen wollen. Der Bryce Canyon ruft! Wobei: Streng genommen ist er gar kein Canyon (er wurde nicht durch einen Fluss gebildet), sondern eine „Abbruchkante an einer geologischen Störung“, wie unser Travel Handbuch nüchtern erklärt, um dann doch noch etwas enthusiastischer auszuführen: „Entlang eines 20 Meilen langen Riffs am Ostrand des dicht bewaldeten Paunsaugunt Plateaus, 2400 Meter über dem Meeresspiegel, sind sukzessive Schichten unglaublich vielfarbigen Gesteins in verschiedenen Schattierungen übereinander gerutscht bzw. abgewaschen und zu den seltsamsten Felsnadeln in Gelb- und Rottönen, flammendem Orange und Weiß geschliffen worden.“ Dieses Naturwunder lassen wir uns natürlich nicht entgehen.
Da die Straße durch den südöstlichen Teil des Zion National Park noch gesperrt ist, müssen wir einen Umweg über den Interstate 15 in Kauf nehmen. Wir fahren 230 Kilometer durch verschneite Landschaft und halten ab und an für kurze Fotostopps, zum Beispiel bei den leuchtend roten Sandsteinformationen des Red Canyon im Dixie National Forest. Je näher wir unserem Ziel kommen, desto mehr zieht sich der Himmel zu, und tief hängende Wolken lassen uns bangen, ob Bryce Canyon uns denn überhaupt seine Schönheit enthüllt. Diese Sorge ist unbegründet: Kaum kommen wir im Nationalpark an, strahlt auch die Sonne wieder auf uns herab. Nichtsdestotrotz ist es bitterkalt - hier oben herrschen minus 9 Grad Celsius. Schneemassen türmen sich beidseits der Straße auf, eisige Windstöße wirbeln die oberen Schneeschichten wie Puderzucker auf.
Wir stellen schnell fest, dass nur der erste Abschnitt befahren werden kann, denn der Weg zu „Inspiration Point“ und „Bryce Point“ wird nicht geräumt. Zum Glück ist aber der „Sunset Point“ im Herzen des Parks für uns zugänglich. Und dieser macht es erst mal spannend. Vom Parkplatz aus nehmen wir einen leicht ansteigenden Weg und sehen zunächst nur Schneewände, die sich entlang einer Absperrung auftürmen. Erst als wir ganz vorne an der Abbruchkante angekommen sind und über den Schnee lugen, erhaschen wir zum ersten Mal einen Blick in das sogenannte Amphitheater. Das Panorama ist atemberaubend! Aus den schneebedeckten Hängen und Buckeln des nahezu fünf Kilometer breiten Felskessels ragen die sogenannten Hoodoos empor - bis zu 60 Meter hohe Gesteinsnadeln in warmen Lachs- und Orangetönen, durch Wind, Wasser und Eis zu fantastischen Skulpturen geformt: zu langgezogenen zinnenbewehrten Überresten einer Burgmauer, zu versteinerten Nadelbaumgruppen, zu aufgepflanzten Dreizacken und eleganten, für sich alleine stehenden Türmen. Sie alle tragen schicke weiße Querstreifen, da sich Schnee auf den Simsen abgelagert hat. Besonders bekannt ist „Thor’s Hammer“, eine schlanke Felsformation mit dreiteiligen Kopfputz: auf einer Art Pilzhut sitzt ein kleiner Kugelhals, auf dem wiederum ein wuchtiger hammerartiger Block (mit Schneehaube) thront. Trotz der Kälte spazieren Olaf und ich an der Abbruchkante entlang und bewundern immer wieder die Rundsicht, die sich uns bietet.
Natürlich fahren wir auch noch zum „Sunrise Point“ und steigen dort aus. Wieder blicken wir nach einem kleinen Spaziergang auf schneebedecktem Pfad in die Weite des Bryce „Canyon“-Amphitheaters. Nicht weit von uns entfernt befindet sich die eigentliche, erhöht liegende Aussichtsplattform, die allerdings nur über einen tief verschneiten Trampelpfad zu erreichen ist. Olaf entschließt sich, zum Auto zurückzukehren, ich jedoch kann nicht widerstehen und stapfe - ohne Handschuhe und mit Wanderschuhen, die nur bis zum Knöchel reichen - in Richtung Plattform los. Nach ein paar Metern breche ich zum ersten Mal bis zum Knie im Schnee ein und verliere fast das Gleichgewicht. Trotzdem stolpere ich weiter, breche wieder ein, und so weiter und so fort, bis ich mich nach oben zur Absperrung gekämpft habe. Meine Mühe wird durch das spektakuläre Panorama und den Blick auf die mit Felszacken gespickten „Ränge“ des Halbrunds belohnt. Und vielleicht auch noch bemerkenswert: Der Platz, an dem sich normalerweise Dutzende von Touristen tummeln, gehört mir gerade ganz alleine.
Lange halte ich es allerdings in dem eisigen Wind nicht aus. Meine Hände werden zunehmend gefühllos, die Kälte beißt in meine Nase. Ich stolpere eilig den Pfad zurück und treffe plötzlich auf eine Gruppe von Japanern, die - teils in durchnässten Lederschühchen - im Schnee versinken, umfallen, sich gegenseitig wieder herausziehen und das Ganze dramatisch schreiend dokumentieren. Sogar ein wackeliger Greis mit Mundschutz kämpft sich vorwärts. Respekt! Irgendwie gelingt es mir, mich an den Japanern vorbeizuquetschen und meinen Rückweg fortzusetzen.
Im warmen Auto angekommen, befreie ich erst einmal Hose und Socken vom Schnee und lasse mir von meinem lieben Mann die schmerzenden Hände auftauen. Auf der Rückfahrt nach Springdale halte ich meine Füße wahlweise ans Gebläse, aus dem Heizungsluft strömt, oder lege sie auf dem Armaturenbrett ab, damit die Sonne sie ein wenig wärmt. Für Polarexpeditionen wäre ich sicherlich nicht die geeignete Kandidatin! Viel zu kälteempfindlich...
Dank Google Maps stellen wir fest, dass die noch am Vormittag gesperrte Straße durch den Zion National Park mittlerweile wieder passierbar ist und wir nicht mehr den Umweg über Cedar City nehmen müssen. Wir freuen uns, dass wir eine halbe Stunde Zeit gewinnen und fahren auf der 89 in Richtung Süden. Im winzigen Örtchen Orderville kommen wir an der deutschen Bäckerei Forscher vorbei, die bereits vor vielen Meilen anhand großer Werbetafeln auf sich aufmerksam gemacht hat und uns von leckeren Backwaren träumen ließ. Leider hat sie geschlossen. Viele Geschäfte der Gegend scheinen sich im Winterschlaf zu befinden...
Gegen Ende der Rückfahrt erwartet uns noch ein Highlight: der Zion-Mount Carmel Highway. Die Strecke zwischen East und South Entrance überrascht uns mit wunderbaren Ausblicken auf die majestätische Bergwelt im Ostteil des Nationalparks, die im Nachmittagslicht rot erstrahlt.
Zurück in Springdale ruhen wir uns ein wenig im Hotelzimmer aus, bevor wir uns ein Dinner im „Switchback Grille“ gönnen. Es ist schließlich unser letzter Abend in der Stadt! In einem großen Raum mit freiliegendem Dachgebälk und dekorativ aufgehängten Teppichen erwarten uns ein elegantes Ambiente, gehobene Küche und guter Wein. Apropos: Als ich ein Glas Roten bei unserer Kellnerin bestellen will, fragt sie mich nach meinem Ausweis! Ich starre sie einen Augenblick lang entgeistert an, fummele hektisch an meiner Handtasche herum und muss dann über die Situation lachen. Okay, das schummerige Licht hier ist gnädig zu Falten, aber die Bedienung kann doch nicht ernsthaft daran zweifeln, dass ich über 21 bin! Hat Olaf sie etwa bestochen? „Ich habe keinen Ausweis dabei, aber ich bin 39 Jahre alt!“, versichere ich der Lady. Nach einem letzten prüfenden Blick in mein Gesicht entschließt sie sich, mir zu glauben und ich darf doch noch Wein trinken. Als ich dabei meinen Blick schweifen lasse, bleibt er an einem Kellner hängen: Lange, lockige dunkle Haare, dunkler Bart, kleine Nase, hübsches Gesicht... Ich werde plötzlich in die Serie „Game of Thrones“ katapultiert. Dort am Nebentisch serviert gerade Jon Snow die Speisen, seufz! Olaf ist von meiner Entdeckung und der Ähnlichkeit leider nicht ganz überzeugt. Schaut Euch die Bilder an und urteilt selbst!