„Wie, Du willst nach Alcatraz?!“ Olaf ist von meinem Programmvorschlag für den heutigen Tag nicht sonderlich begeistert. Was gibt es dort schon außer ein paar alte Zellen? Mir zuliebe lässt er sich jedoch erweichen, sodass wir um elf Uhr mit „Alcatraz Cruises“ und Hunderten anderer Touristen von Pier 33 ablegen und der berüchtigten Gefängnisinsel entgegenschippern. Im Sonnenlicht präsentiert sich „The Rock“ mit seiner üppigen Vegetation und dem auf der Anhöhe thronenden Leuchtturm erst einmal wenig abschreckend, wäre da nicht ein gelbes Schild, das eindringlich warnt: „Persons procuring or concealing escape of prisoners are subject to prosecution and imprisonment.“
Wir betreten das Dock und spazieren an Gebäuden in unterschiedlichen Stadien des Verfalls vorbei: am dominierenden Wohnblock gleich oberhalb der Schiffsanlegestelle, in dem sich einmal Soldatenquartiere und später Wohnungen für die Gefängniswärter und ihre Familien befanden; am dunkel in den Himmel ragenden Wachturm; am ältesten Gebäude der Insel, dem 1857 gebauten Guardhouse; und an der Ruine des Clubhauses, das im Jahr 1970 durch ein Feuer zerstört wurde.
Diese Bauwerke sind Zeugnisse der wechselhaften Geschichte von Alcatraz: Im Zuge des Goldrausches in Kalifornien und dem damit einhergehenden Andrang an Schiffen wurde im Jahr 1852 zunächst ein Leuchtturm errichtet, danach begann die militärische Nutzung von Fort Alcatraz, das ab 1861 zum ersten Mal als Gefängnis - für Kriegsgefangene - diente. Im Jahr 1933 wurde das Fort aufgegeben und Alcatraz im Anschluss zum Bundesgefängnis umfunktioniert. Bis 1963 fungierte es als Hochsicherheitsgefängnis, in dem bekannte Verbrecher wie Al Capone, Robert Franklin Stroud oder Machine Gun Kelly ihre Zeit absaßen. Nach Alcatraz kamen Häftlinge, die in anderen Gefängnissen als unverbesserlich und schwierig eingestuft wurden. Und auf „The Rock“ war dann Schluss mit lustig, davon können wir uns mit eigenen Augen - und Ohren - überzeugen, als wir den Zellenblock betreten. Eine exzellente Audioführung bringt uns nämlich in den nächsten Stunden die Haftbedingungen sowie diverse Ausbruchsversuche näher. Ehemalige Häftlinge und Wärter erklären die verschiedenen Teile des Gefängnisses und schildern ihre Erlebnisse, Tonschnipsel wie das metallische Einrasten von Zellentüren, das wütende Geschrei von Insassen etc. sorgen dafür, dass die Geschichten lebendig werden.
Dass auf Alcatraz ein rauer Wind herrschte, lässt sich schon in den Institution Rules & Regulations nachlesen, die jeder Neuankömmling bei seiner Ankunft erhielt. Regel Nummer 5 besagte: „You are entitled to food, clothing, shelter, and medical attention. Anything else you get is a privilege.“ Die Häftlinge hausten 16 bis 23 Stunden am Tag in 1,52 mal 2,74 Meter kleinen kalten Käfigen, in denen das Bett an der Toilette klebte. Ein winziges Waschbecken, Klapptischchen und -sitz sowie zwei Regalbretter an der Wand vervollständigten die spartanische Einrichtung. Wer randalierte, wurde mit Isolationshaft bestraft und für bis zu 19 Tage am Stück ins „Loch“ gesteckt, eine Zelle, die komplett abgedunkelt werden konnte. Nur bei guter Führung gab es Sondervergünstigungen - auch Arbeit fiel darunter. Alles, was von der tristen Routine ablenken konnte, war willkommen. Gefängnis-Insassen malten, musizierten und verschlangen Bücher - bis zu 100 Stück pro Jahr. Philosophische Abhandlungen von Kant, Schopenhauer und Hegel erfreuten sich besonders großer Popularität.
Geistige Flucht reichte einigen Häftlingen jedoch nicht aus, zumal die Freiheit zum Greifen nah schien. San Francisco liegt nur eineinhalb Meilen von „The Rock“ entfernt, seine imposante Skyline ist von der Insel aus deutlich zu erkennen. Kein Wunder also, dass zwischen 1934 und 1963 diverse - teils spektakuläre - Fluchtversuche stattfanden: insgesamt vierzehn an der Zahl. Ob tatsächlich einer von ihnen erfolgreich war, lässt sich nicht genau sagen. Fünf Männer wurden nie wieder gesehen; sie verloren vermutlich den Kampf gegen das kalte Wasser und die gefährlichen Strömungen in der San Francisco Bay. Wie simpel ist dagegen für uns die „Flucht“ von der Insel. Randvoll mit Informationen über diesen unwirtlichen Ort gehen wir nach drei Stunden einfach wieder an Bord des Schiffes und genießen während der Rückfahrt den schönen Blick auf die Skyline von San Francisco.
Nach unserer Ankunft bleiben wir in Wassernähe und spazieren zum Pier 39 vor. Die Atmosphäre dort finde ich bezaubernd. In schnuckeligen (Holz?)Häusern sind nette Geschäfte und Lokale untergebracht, ein Karussell im Nostalgielook dreht sich im Kreis und ums Eck sonnen sich Dutzende von fetten Seelöwen, wenn sie einander nicht gerade lautstark anbrüllen oder sich den Platz streitig machen. Wir erkunden das belebte Hafenviertel Fisherman’s Warf noch ein wenig mehr, bevor wir uns von einem Uber-Fahrer zu unserem Hotel zurückbringen lassen.
Nach einem kurzen Zwischenstopp auf dem Zimmer statten wir dem Baker Beach einen Besuch ab. Vom weitläufigen Strand aus, auf den die Wellen des Pazifiks donnern, haben wir eine herrliche Sicht auf die Golden Gate Bridge! Nachdem wir uns sattgesehen haben, folgen wir für etwa zwanzig Minuten dem California Coastal Trail und halten beim Golden Gate Overlook an, um die Hängebrücke noch einmal aus einer anderen Perspektive zu bewundern.
Mein HHS ist nach dem Programm des heutigen Tages und zehn Kilometern Fußmarsch einigermaßen zufriedengestellt und erlaubt uns eine Ruhepause im Zimmer, bevor wir noch einen kurzen Spaziergang zum Restaurant „ Arguello“ machen. Dort wird gehobenes mexikanisches Essen serviert, das aber weder Olaf noch meine Wenigkeit so richtig überzeugt.