In San Francisco regnet es heute und so fällt es uns nicht allzu schwer, der Stadt vorübergehend Lebewohl zu sagen. Unser nächstes Ziel ist die 315 Kilometer entfernte Kleinstadt Oakhurst in den westlichen Ausläufern der zentralen Sierra Nevada. Wir kurven mit unserem neuen Mietwagen zunächst endlos die Straßen San Franciscos rauf und runter, bevor wir auf der imposanten, fünfspurigen Bay Bridge - ohne Gegenverkehr, denn der rauscht ein Stockwerk über uns dahin - nach Oakland kommen. Auf diversen Highways fahren wir lange durch dicht besiedeltes Gebiet, wo sich ein Ort an den nächsten reiht. Das einzig Bemerkenswerte an der Gegend sind für mich die vielen weiß blühenden Obstbäume, die direkt neben der Straße wachsen. Und die Temperaturen klettern nach oben, sie erreichen sage und schreibe zwanzig Grad! Celsius wohlgemerkt, nicht Fahrenheit! Der bisherige Rekord auf unserer Reise durch die USA. Leider hält die Wärme nicht lange an, östlich von Merced wird es kühler und regnerisch. Dennoch genieße ich diesen Streckenabschnitt, da wir die Dauerbesiedelung hinter uns lassen (ja, ich gebe es zu, ich bin halt ein waschechtes Landei) und auf der State Route 120 durch eine menschenleere Landschaft fahren, die uns an Irland erinnert: mit leuchtendem Grün bedeckte sanfte Hügel, auf die ein paar Kühe „hingetupft“ sind. Hier könnte man sofort eine Werbung für Kerrygold Butter drehen!
Hinter Catheys Valley wird die Landschaft zunehmend bergiger und bewaldeter. Viel von der Umgebung können allerdings nicht mehr erkennen, denn mittlerweile gießt es in Strömen. Wir sind froh, als wir beim Hotelanwesen ankommen. Ein Tor versperrt uns den Weg und wir müssen uns anmelden, damit uns Zugang zum „Château du Sureau“ gewährt wird. Und dann heißt es: Willkommen im Märchenreich!
Das Märchen geht so: Ein Wiener Mädel namens Erna wuchs auf mit romantischen Geschichten über Adelsgeschlechter und besuchte häufig die Schlösser und Ruinen der Gegend, vom Prunk alter Zeiten träumend. Ihr Studium der Theaterwissenschaften führte sie nach England, wo sie während ihrer Arbeit in einem Hotel von Weltruf ihre Liebe für das Kochen und ihre Wertschätzung für exzellenten Service entdeckte. Im Jahr 1962 reiste Erna in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und eröffnete ein paar Jahre später ihr erstes Restaurant in Los Angeles. Doch schließlich zog es Erna in die ruhige, majestätische Bergwelt der Sierra Nevada. Sie mietete ein verwunschenes Blockhaus im dunklen Wald des Yosemite Nationalparks und lockte mit ihren europäisch beeinflussten Fünf-Gänge-Menüs Feinschmecker an. Als die Pacht nicht mehr verlängert wurde, errichtete sie in Oakhurst ihr eigenes Lokal namens „Erna‘s Elderberry House Restaurant“ und stattete es mit funkelndem Kristall, teuren Antiquitäten sowie kostbaren Stoffen aus der Provence aus - ein absoluter Hingucker in dieser ländlichen Gegend. Gourmets nahmen weite Wege auf sich, um die preisgekrönte Küche und edlen Weine genießen zu können. Doch wohin sollten sie ihre von der langen Anreise müden Glieder und die vom opulenten Mahl vollen Bäuche betten? In der ganzen Gegend existierte keine Unterkunft, die ihrem Anspruch genügt hätte. Erna dachte an ihre Kindheitsträume, an die prachtvollen Schlösser und ihre adligen Bewohner, die von Luxus und Schönheit umgeben waren. Und so entschied sie sich, ihr eigenes Schlösschen zu errichten: das „Château du Sureau“.
Diese Märchenwelt öffnet sich uns nun. Wir werden am Fuße der Außentreppe vom Personal in Empfang genommen und fühlen uns gleich beim Betreten des Hotels tatsächlich ins Europa vergangener Zeiten versetzt. Dieses Gefühl verstärkt sich noch, als der überaus freundliche Cody uns durch die Räumlichkeiten führt. Die Wiener Träumerin Erna ließ zum Teil Bodenbeläge und schwere Holztüren aus alten französischen Schlössern verbauen, errichtete eine kleine Kapelle im Haus und stattete den großen Salon mit Trompe-l‘œil-Malereien sowie kathedralenartigen Fenstern im Runderker aus. Im wuchtigen gemauerten Kamin flackert ein Feuer, um Tischchen gruppierte Sitzmöbel laden zur Muße ein, der große Bücherschrank aus dunklem Holz ist reich gefüllt. Ernas Experiment hätte schiefgehen können - ein Fake Castle im Disney Stil, bei dessen Anblick es gerade die europäischen Gäste eher gruseln würde. Dank des ausgezeichneten Geschmacks der Hausherrin, der sich noch in kleinsten Dekodetails widerspiegelt, ist die Illusion jedoch sehr gut gelungen. Das Holunder-Schlösschen atmet tatsächlich den Glanz des alten Europas; kaum zu glauben, dass es erst Anfang der 1990er Jahre erbaut wurde!
Jedes der zehn Zimmer des Hotels ist unterschiedlich eingerichtet. In unserem Rosmarin-Raum begegnet einem natürlich immer wieder der Farbe Grün - bei den Bezügen, dem Bettüberwurf, den Kacheln im Bad... Ein wuchtiges Himmelbett, dicker Teppichboden, Troddeln an den Schranktüren und bequeme Sessel sorgen für ein „plüschiges“ Wohngefühl, das ich aber eher als charmant denn als angestaubt empfinde. Mein persönliches Highlight ist der Kamin, den ich auch gleich einweihe. Was gibt es Schöneres als ein knisterndes Feuer im Schlafzimmer? Zu der gelungenen Ausstattung kommt hinzu, dass wir tatsächlich wie Royals behandelt werden (nun gut, vielleicht mit ein wenig mehr amerikanischer Herzlichkeit, als die Queen für angemessen halten würde). Ich habe selten einen so aufmerksamen Service erlebt. Natürlich wartet auf dem Zimmer eine handgeschriebene Willkommenskarte, persönlich an uns adressiert. Natürlich müssen wir unseren Wagen nicht selbst parken, unser Gepäck nicht ausladen. Natürlich serviert Cody uns nach der Anreise ein Tablett, auf dem sich leckere Appetithappen, Beeren, Minikekse und frisch aufgebrühter Tee befinden. Natürlich warten auch ein kleines Küchlein und eine Flasche Wein auf uns. Mittlerweile hat Erna Kubin-Clanin das Anwesen zwar verkauft, doch auch der jetzige Besitzer Bernard Rosenson scheint besonderen Wert darauf zu legen, dass das hohe Niveau der Gastfreundschaft weiterhin erhalten bleibt. Chapeau!
Unsere Weltreise-Agentur hat im Voraus für jeden Abend einen Platz in „Erna‘s Elderberry House Restaurant“ reserviert, sodass wir nur ein paar Schritte laufen müssen - vorbei am beleuchteten kleinen Pool und am ebenfalls illuminierten Springbrunnen. Im Inneren des Lokals erwarten uns riesige Kronleuchter, die den hohen Raum in warmes Licht tauchen, beleuchtete Landschaftsgemälde und weiße Leinentischdecken, dezente klassische Musik rieselt auf uns herab. Neben unserem Tisch tanzen Flammen im offenen Kamin. Herrlich! Im Laufe der nächsten Stunden werden wir von der Küche und den aufmerksamen Kellnern kulinarisch mit fünf Gängen und zwei Grüßen aus der Küche verwöhnt (und natürlich ist die Speisekarte personalisiert, unsere Namen samt Titel prangen auf der linken Seite). Wir schlemmen Jakobsmuscheln mit asiatischen Beilagen, Ingwer-Karottensuppe mit Kokosschaum, rosiges rib-eye auf herzhaftem Gemüse, Wintersalat mit kandierten Pekannüssen sowie eine Espresso-Schokotorte mit Beerensorbet. Uns schmeckt wirklich jedes Gericht. Nochmals Chapeau! Da wir zwischendurch ein wenig länger auf den nächsten Gang müssen, lässt man uns eine großzügige „Wiedergutmachung“ angedeihen: Für sämtliche Getränke (Wasser, Rotwein und Dessertwein), die wir bestellt haben, müssen wir nichts bezahlen.
Übrigens speist heute auch der betagte Hausherr Bernie, dem mehrere High End-Restaurants gehören, mit seiner weiblichen Begleitung hier. Zwischen den Gängen wandert er von Tisch zu Tisch, begrüßt die Gäste und plaudert ein wenig mit ihnen. Mich hält er zunächst für eine Französin und erzählt uns dann, dass er selbst in Berlin und seine Frau in Salzburg geboren ist. Ein paar Brocken Deutsch beherrschen die beiden auch noch. Als sie sich verabschieden, wünschen sie uns „eine gute Nacht und eine schöne Zeit“.
Mit dicken Bäuchen kehren wir schließlich ebenfalls auf unser Zimmer zurück und beschließen: So gut das Essen war, wir werden hier nicht jeden Abend ein Fünf-Gänge-Menü verzehren! Ansonsten kann Cody uns in ein paar Tagen zu unserem Auto tragen oder rollen...