Tagelang musste er in der Garage ausharren, doch heute nach dem Frühstück kommt er zum Einsatz: unser Mietwagen, von Olaf respektvoll „The Beast“ genannt. Wir verlassen Auckland und fahren eine gute halbe Stunde zum Arataki Visitor Centre, das von einem kunstvollen, vom Stamm Te Kawerau geschnitzten „pou“ (Pfahl) Pfahl beschützt wird. Im Besucherzentrum holen wir uns Ausflugstipps sowie Umgebungskarten und bewundern von mehreren Plattformen aus den fantastischen 360-Grad-Rundumblick. Im Nordosten ist in der Ferne der Sky Tower von Auckland und dahinter der Vulkankegel der Insel Rangitoto erkennbar, im Süden liegen Huia und Manukau Harbour und westlich von uns erstrecken sich die Hügel der Waitakere Ranges, bedeckt mit 16.000 Hektar ursprünglichen Waldes. Ein 250 Kilometer langes Netzwerk von Wanderwegen durchzieht die Ranges, doch viele davon wurden zum Schutz der gewaltigen, für die Māori heiligen Kauri-Bäume gesperrt. Leider geht hier nämlich eine tödliche Baumkrankheit um, die fast ein Fünftel der Kauri befallen hat und deren pilzähnliche Erreger unter anderem durch die Schuhe von Wanderern verteilt werden. Es existieren diverse Reinigungsstationen, an denen man die Schuhsohlen anhand der im Boden eingelassenen Bürsten säubert und anschließend mit Desinfektionssprays behandelt.
Uns zieht es sowieso eher an die Westküste als in den Regenwald. Auf kurvigen schmalen Straßen durchqueren wir den ausgedehnten grünen Busch gen Westen. Oberhalb des Örtchens Piha bieten sich von der Straße aus bereits traumhafte Ausblicke auf den gleichnamigen Strand, einen der beliebtesten der Westküste. Wir fahren zum Meer hinunter und schauen ihn uns genauer an. Es ist wirklich hübsch hier: Die grünblauen Wellen des Pazifik rollen in langen Bewegungen aus und lecken am ockerfarbenen Sand des sehr breiten Strandes, der vom imposanten, hundert Meter hohen Lion Rock unterbrochen wird. Dafür, dass Piha Beach so beliebt sein soll, ist es übrigens recht ruhig. Nur eine Handvoll Menschen und ein paar herumtollende Hunde verteilen sich auf dem flachen Uferabschnitt, der schließlich in niedrige, mit gelben Blumen übersäte Dünen übergeht. In den dicht bewachsenen Hügeln dahinter verstecken sich ein paar Häuser.
Unser nächstes Ziel, der winzige Ort Karekare, liegt weiter südlich. Hier gibt es weder Cafés noch Geschäfte, aber deswegen kommen wir auch nicht hierher. Wir spazieren vom Parkplatz aus zunächst eine steile Straße hoch, tauchen dann in lichten Wald ein, überqueren ein Bächlein und stehen nach diesem kurzen Spaziergang unvermittelt vor den malerischen Karekare Falls. Das Wasser ergießt sich von einem dicht bewachsenen Steilhang in mehreren Kaskaden in einen kleinen Teich. In dessem glasklaren Wasser paddelt gemütlich eine Ente umher, die sich von unserer Anwesenheit nicht im Geringsten stören lässt.
Wir verlassen die Wasserfall-Idylle und nehmen den Wanderweg, der zum Strand von Karekare führt, den Drehort diverser Filme wie Jane Campions Drama „Das Piano“. Zunächst kommen wir durch einen Wald, in dem imposante Pōhutukawa wachsen, Neuseeländische Weihnachtsbäume mit mehreren, weit ausladenden Stämmen und knorrigen, krummen Ästen, die mich an Fangarme denken lassen. Ein Exemplar sieht so aus, als habe man einen Tintenfisch kopfüber in der Erde begraben. Der Pfad führt uns aus dem Wald heraus und durch eine hügelige Dünenlandschaft, die üppig mit Sträuchern, Büschen und Gräsern bewachsen ist. Und dann beginnt der dunkle Strand, der sich schier endlos ausbreitet. Wir gehen minutenlang über den feuchten, von Muscheln übersäten Sand, bis wir die Wellen des Ozeans erreichen. „Wai Karekare“, die Bucht der stürmischen Meere, nannten die Māori diesen für sie spirituell bedeutsamen Ort. Nahe am Strand, von Wasser umspült ragt der Wächter empor - ein einsamer Felszahn, auf den Mitte des 17. Jahrhunderts ein Pā, eine Verteidigungsanlage der Māori, errichtet wurde. Von ihr ist nichts mehr zu sehen, ungezähmte Natur dominiert die Szenerie. Von beeindruckender Kraft und wilder, rauer Schönheit ist dieser riesige Strand. Die wenigen anderen Besucher verlieren sich an seinem anderen Ende, nicht viel mehr als auf den dunklen Sand getupfte Punkte. Kaum zu glauben, dass die Entfernung zum Zentrum von Auckland nicht einmal vierzig Kilometer beträgt. Vom Gefühl her könnte sich die Metropole auch auf dem Mond befinden - unendlich weit weg. Blauer Himmel und grauweiße Schäfchenwolken spiegeln sich im überfluteten Sand, die Trennung zwischen Himmel und Erde scheint sich aufzulösen. Ich bin sehr froh, diesen besonderen Ort kennengelernt zu haben.
Auf unserer Rückfahrt nach Auckland machen wir beim „Elevation“ halt, dem höchstgelegenen Café im Großraum der Metropole. Bei Salat und Hühnchenburger genießen wir von der Terrasse aus das tolle Panorama, das sich uns bietet. Selbst Rangitoto, die Wolkenkratzer des CBD und den Sky Tower können wir noch erkennen. Letzteren haben wir bislang nur aus der Ferne gesehen. Es wird Zeit, dem 328 Meter hohen Wahrzeichen Aucklands einmal näher zu kommen.
Und genau das tun wir am heutigen Abend. Nach dem Frischmachen im B&B lassen wir uns per Uber zum Fuße des Funkturmes kutschieren und rasen dann im Aufzug zum obersten Stock hinauf. Im Gourmetrestaurant „Sugar Club“ in der 53. Etage genießen wir sowohl das sehr gute Drei-Gänge-Menü als auch die wunderbare Aussicht auf die Stadt, die Bucht und den glutroten Sonnenuntergang. Was für ein schöner letzter Abend in Auckland!