Als wir nach einer erholsam langen Nacht aus den Federn kriechen, erwartet uns ein strahlend schöner Tag. Perfekt für unser heutiges Vorhaben! Wir wollen nämlich mit dem Anbieter „Inflite Experiences“ am frühen Nachmittag einen Teil des Aoraki/Mount Cook National Parks per Helikopter erkunden. Der 707 Quadratkilometer große alpine Park beherbergt 19 über 3.000 Meter hohe Berge, über ein Drittel seiner Fläche ist ganzjährig mit Eis und Schnee bedeckt. Unser Reise Know-How Reiseführer klärt uns über die Entstehung der Region auf: Vor 250 bis 300 Millionen Jahren lagen die Südalpen und die Gegend des heutigen Mackenzie-Beckens noch auf dem Meeresboden. Massive Bewegungen der Erdkruste führten in den darauffolgenden Jahrmillionen zur Ausbildung des Gebirges. Die letzte Eiszeit vor 15.000 bis 18.000 Jahren wiederum schob gigantische Mengen an Eis und Stein durch die Berge und ließ das Tal sowie die Seen entstehen.
So viel zur Geschichte und den nüchternen Fakten. Doch wie sieht es aus, das Reich aus Schnee und Eis da oben? Bald werden wir es im Rahmen unserer „Grand Circle“-Tour erfahren! Damit auch ja nichts schiefgeht, fahren wir mit ordentlich Puffer zum kleinen Flugplatz, der nur ein paar Kilometer außerhalb des Dorfes liegt. Im Gebäude mit den diversen Helikopter-Touranbietern treffen wir wieder auf zahlreiche Chinesen, die sich einen Rundflug ebenfalls nicht entgehen lassen wollen. Wie so oft in Neuseeland prangen auf dem WC Schilder, die auf Englisch und Mandarin darum bitten, sich nicht auf die Klobrille zu stellen. Der vorschriftsmäßige Gebrauch der Toilette wird auch noch anhand von Zeichnungen veranschaulicht. Ich finde das interessant. Wie sehen wohl die stillen Örtchen der Chinesen aus? Mein Mann und ich vertreiben uns die Wartezeit damit, dieser Frage nachzugehen - und erfahren im Internet weit mehr darüber, als uns lieb ist. Zum Glück wird unsere Recherche bald von einer Angestellten unterbrochen, die uns sowie zwei weiteren Pärchen ein Safety Video vorführt. Anschließend verlassen wir das Gebäude und quetschen uns zu sechst in den schwarzen „Inflite“-Hubschrauber. Eine ältere Lady aus Georgia und ich dürfen vorne neben dem Piloten Neil sitzen. Und los geht’s!
Die nächste Stunde ist so randvoll mit wunderschönen Eindrücken, dass mir fast die Worte dafür fehlen. Wir fliegen zunächst über das breite Flussbett des Tasman River, der im Moment nur aus ein paar weit verzweigten Wasserläufen besteht, die sich silbern glänzend dahinschlängeln. Im Hintergrund leuchtet die schneebedeckte Spitze von Aoraki/Mount Cook. Bald taucht unter uns der milchig beige Tasman Lake auf, unterhalb dessen Wasserspiegel sich eine bis zu 60 Meter breite Front aus Gletschereis befindet. Von ihr abgelöste Eisberge und -brocken treiben im trüben Wasser. Über die Berghänge der Burnett Mountains fliegen wir bis zum Ende des Sees und folgen anschließend noch kurz dem Flussbett des Murchison River, bevor wir über der beeindruckenden Mount Cook Range schweben und das wunderschöne Gletschergebiet rund um den Aoraki und nördlich davon erkunden - unter anderem den Fox- und den Franz Josef-Gletscher, von dem aus wir sogar die Westküste und die blau schimmernde See sehen können, die sich bis zum Horizont erstreckt. Wir fliegen über ausgedehnte, unberührte Schneefelder hinweg, die dort, wo der stetige Fluss des Eises gestört wurde, von klaffenden Gletscherspalten abgelöst werden. Sie verlaufen mal längs, mal quer, mal schräg und bilden die seltsamsten Strukturen aus: Gitter, Blöcke, Wirbel, Zacken und Türme. Dort, wo das Eis nur sehr wenige Luftbläschen enthält, schimmert es bläulich.
Ein weiterer Höhepunkt steht an: Die Landung auf dem Tasman Glacier, mit 24 Kilometern Länge und bis zu drei Kilometern Breite der größte Gletscher Neuseelands. Wir stapfen über das riesige Schneefeld und genießen die atemberaubende Aussicht, die sich uns bietet - zum Beispiel auf die Berghänge der Minarets und die Ostflanke des Mount Cook, dessen Gipfel nur wenige Kilometer entfernt ist. Die Sonne scheint uns ins Gesicht, kein Wind stört uns, keine Wolke trübt den Himmel oder verschleiert Aorakis Gipfel, es herrschen angenehme Temperaturen. Unser Pilot Neil bescheinigt uns wirkliches Glück: Solch perfekte Bedingungen erlebt er hier oben äußerst selten!
Schließlich ist es Zeit für den Weiterflug. Wir folgen dem weißen Band des Tasman-Gletschers, überfliegen den Hochstetter Icefall und das riesige Schneefeld des Grand Plateau. Beim Cinerama Sattel schlüpfen wir zwischen zwei Bergen hindurch und sehen die blauen Wasser des Lake Pukaki in der Ferne leuchten. Nach letzten Blicken auf den Tasman Gletschersee kehren wir zum Flugplatz zurück und landen dort. Olaf und ich haben ein Dauerlächeln im Gesicht. Was für ein spektakulärer Flug! Mit Sicherheit eines der absoluten Highlights auf unserer Weltreise...
Bevor wir zum Motel zurückkehren, schauen wir noch beim Besucherzentrum des Ortes vorbei und kaufen uns Wanderbroschüren von der Umgebung. Nachdem wir einige Zeit auf dem Zimmer verbracht haben, um die jüngsten Ereignisse aufzuschreiben und zu bebildern, gönnen wir uns am Abend ein Dinner im „Hermitage Hotel“, das über dem Dorf thront. Was für ein riesiger, hässlicher, verschachtelter Kasten diese Unterkunft doch ist! Immerhin sieht der mehreckige Pavillon, in dem wir speisen, recht nett aus - lässt man einmal die Tankstellenbeleuchtung außer Acht. Das von uns gewählte Essen (Meeresfrüchte und Mozzarella als Vorspeise, Hühnchen und Safran-Gnocchi als Hauptspeise) schmeckt sehr gut und vom heutigen Merlot bin ich so begeistert, dass ich mir das Weingut, die Region sowie den Jahrgang notiere (Trinity Hill Merlot, Hawke‘s Bay, 2016). Wir reservieren für morgen Abend gleich wieder einen Tisch, um nicht auf das „Old Mountaineers Café“ ausweichen müssen.
Als wir bei unserem Motel ankommen, werfen wir noch einen Blick nach oben - schließlich gilt der Nachthimmel über dem Mackenzie Basin seit dem Jahr 2012 als das größte Dark Sky Reserve der Welt. Die funkelnden Sterne sind tatsächlich eine Schau, die Milchstraße klar erkennbar. Wenn es nur nicht so kalt wäre, würde ich noch länger ins Himmelszelt starren...