Den Vormittag verbringen wir damit, uns den zweiten Teil von „The Lord of the Rings“ (LOTR) der Trilogie anzusehen. Vor der epischen Schlacht um Helm‘s Deep müssen wir jedoch abbrechen, denn unser eigenes Abenteuer in Mittelerde beginnt gleich! Zum Glück regnet es nicht mehr, denn wir werden mehrere Drehorte von Pete Jacksons Kulttrilogie besuchen. Olaf konnte ich das Vorhaben damit schmackhaft machen, dass wir im Rahmen der Tour ja auch gleichzeitig die wunderschöne Gegend rund um Queenstown kennenlernen.
Ein Kleinbus des Veranstalters „Pure Glenorchy“ fährt vor, stilecht mit dem Autokennzeichen LOTR 2 und dem EINEN Ring, der an einer Kette vom Rückspiegel baumelt. Wir steigen ein und begrüßen die fünf anderen LOTR-Fans.
Während der junge Guide Ben der Uferstraße folgt, erzählt uns er die Māori-Legende von der Entstehung des Wakatipu-Sees: Ein riesenhafter Dämon namens Matau entführte einst ein schönes Mädchen in die Berge. Ihr Geliebter rettete sie, brachte sie ins Dorf und kam zurück, um dem Riesen den Garaus zu machen. Als er ihn schlafend vorfand, zündete er ihn kurzerhand an. Das Feuer brannte eine tiefe Kluft in der Form des gekrümmten Körpers in die Erde und ließ das Eis und den Schnee auf den umgebenden Bergen schmelzen. Das Wasser füllte die Kluft und Lake Wakatipu entstand. Das Herz des Riesen verbrannte allerdings nicht: Es schlägt immer noch und erzeugt das Heben und Senken des Sees. Tatsächlich fällt und steigt der Wasserpegel alle 27 Minuten um 20 Zentimeter... Natürlich gibt es für dieses Phänomen mittlerweile wissenschaftliche Erklärungen (durch wechselnde Windeinwirkungen und Schwankungen des Luftdrucks werden stehende Wellen, sogenannte „Seiches“ ausgelöst), doch die Māori-Interpretation gefällt mir deutlich besser.
Queenstown liegt so gesehen am Knie des einstigen Riesen. Wir fahren nach Osten und halten bereits nach ein paar Minuten an, um die Szenerie zu bewundern: die Aussicht auf den blauen See, das helle Häusermeer von Queenstown und die wolkenverhangene Gebirgskette der Remarkables. Letztere wurde übrigens mehrfach für LOTR-Szenen genutzt und diente unserem Guide zufolge unter anderem als Kulisse für Mordor.
Wir stoppen das nächste Mal im Twelve Mile Delta Recreation Reserve und spazieren einen Pfad entlang, der uns nach Ithilien in Mittelerde katapultiert. Ben zeigt uns die Stelle, wo Sam zu Gollums Leidwesen die erbeuteten Kaninchen kocht und wo die Hobbits zum ersten Mal die Olifanten erblicken. Anhand eines mitgebrachten Foto-Ordners sowie eines Tablets mit Szenen aus LOTR können wir Realität und Film genau miteinander vergleichen. Da wir allesamt ein bisschen durchgeknallt sind, fühlen wir uns frei genug, die Szenen nachzuspielen. Eine junge Lady auf Hochzeitsreise mimt Gollum am Lagerfeuer, Olaf und ich legen uns zur Olifanten-Beobachtung à la Frodo und Sam bäuchlings auf den Boden.
Nachdem wir zu unserem Minibus zurückgekehrt sind, fahren wir weiter nach Osten und folgen der Biegung des Sees und der Straße nach Norden, bis wir beim Bennetts Bluff Lookout anhalten. Ben hat uns einen „Million dollar view“ versprochen und damit nicht allzu sehr übertrieben: Dramatische Berghänge trennen den blauen See vom blauen Himmel, über den hübsche weiße Wolkenformationen ziehen. Sie hüllen den in der Ferne thronenden Mount Earnslaw aka Caradhras ein, an dessen Hängen die Gefährten sich durch den tiefen Schnee kämpften. Schließlich erreichen wir das verschlafene, wunderschön am „Kopf des Riesen“ gelegene Örtchen Glenorchy. Während Ben ein kleines Picknick herrichtet, haben wir etwas Zeit, um am Seeufer entlangzulaufen, zum Ende des langen Piers zu schlendern und die herrliche Szenerie zu würdigen. Wir sind nicht die Einzigen - mehrere asiatische Paare posieren in schicker Aufmachung für das perfekte Hochzeitsbild.
Als wir zu unserem Guide zurückkehren, versorgt dieser uns mit Quiche, Aprikosenschnitten und Cookies. Diese Stärkung können wir gebrauchen, führt unser weiterer Weg nach Norden uns doch an einen gruseligen Ort von Mittelerde: The Dead Marshes, wo die Körper längst gefallener Krieger im Sumpfwasser liegen. In der Realität ist die Lagune von Glenorchy zum Glück einfach nur ein idyllischer Flecken Erde.
Wir überqueren kurz darauf das breite Flussbett des weit verzweigten Rees River, kommen am Diamond Lake vorbei und erreichen schließlich das Paradies. Kein Witz, wir befinden uns tatsächlich in Paradise! Ob der Name nun aufgrund der hier heimischen, gleichnamigen Enten (Paradieskasarka) gewählt wurde oder aufgrund der epischen Landschaft, bleibt unklar. Jedenfalls passt er perfekt!
Paradise gehört zu den beliebtesten Film-Locations Neuseelands: Szenen für „Wolverine“, LOTR und die „Hobbit“-Trilogie wurden hier gedreht. Ben zeigt uns Dan‘s Paddock aka Isengard, die Heimstatt von Zauberer Saruman, und den Standort von Beorns Haus. Schließlich betreten wir noch den zauberhaften Buchenwald, den Pete Jackson als Schauplatz für Boromirs Tod und Galadriels Reich Lothlórien auswählte. Ben zaubert mehrere Requisiten für uns hervor: Umhang, Kapuze und Stab à la Gandalf, ein silbernes Cape sowie drei Schwerter. Wir verwandeln uns in mächtige Magier und wehrhafte Elben, die stolz ihre blinkenden Waffen präsentieren. Glücklicherweise sind die stummen Bäume unsere einzigen Zuschauer...
Nach diesem Fan-Schmankerl verlassen wir Paradise und machen uns an die Rückfahrt nach Queenstown - bestens unterhalten von Ben, der noch diverse Fun Facts zu den LOTR-Dreharbeiten in petto hat. Schließlich sagen mein Mann und ich nach insgesamt vier Stunden gemeinsamer Tour unseren Gefährten Lebewohl und kehren zufrieden in unsere Villa zurück. Da es uns nicht mehr nach draußen zieht, lassen wir uns wieder Essen liefern - nein, keinen Kaninchen-Eintopf à la Sam, sondern indische Gerichte vom „Bombay Palace“, die allesamt gut schmecken.
Beim Schlafengehen schwirren noch lauter Mittelerde-Geschichten in meinem Kopf herum. Es würde mich nicht wundern, wenn ich heute Nacht von „My preciousssss“ oder Saurons lidlosem Auge träume...