Tag 60, 12.04., Milford Sound: Mein Sehnsuchtsort


An Mittelerde-Albträume kann ich mich zum Glück nicht erinnern, als ich am Morgen erwache. Trotzdem ist meine Stimmung etwas getrübt: Es bricht der letzte ganze Tag unseres Aufenthalts in Neuseeland an! Ich fühle mich hier so wohl, dass ich gerne noch länger bleiben würde...


Als krönenden Abschluss haben wir einen Ausflug zum Milford Sound gebucht: Anreise mit dem Flugzeug, eine Bootstour auf dem Fjord, Rückkehr per Hubschrauber. Für mich hat dieses Ziel eine ganz besondere Bedeutung: Vor vielen Jahren stolperte ich über fantastische Bilder vom Fjord - und der Wunsch war geboren, einmal in meinem Leben nach Neuseeland zu reisen. Werde ich heute also wirklich den Ort meiner Träume mit eigenen Augen sehen? Als ich das aktuelle Wetter beäuge, bin ich mir da nicht so sicher. Es regnet ab und an, die Wolken hängen recht tief und ein paar Windböen fegen um das Haus. Immerhin bringt uns das wechselhafte Wetter auf dem Weg zum Flughafen unverhofft in den Genuss eines schönen Doppelregenbogens, der sich über den See spannt!


Als wir bei „Milford Sound Scenic Flights“ ankommen, werden wir erst einmal an „The Helicopter Line“ zwei Häuser weiter verwiesen. Seltsam. Meine Befürchtungen scheinen sich zu bestätigen, als ein Mitarbeiter am Empfang berichtet, aufgrund der momentanen Wetterverhältnisse am Milford Sound würden keine Flugzeuge dorthin aufbrechen. Oh nein!!! Zum Glück hält der Angestellte eine Alternative für uns bereit: Es sei möglich, mit dem Hubschrauber hin- und zurückzufliegen; die Bootstour auf dem Fjord müsse jedoch aus Zeitgründen ausfallen. Das ist zwar schade, aber natürlich nehmen wir das Angebot trotzdem an. Hauptsache, wir kommen heute überhaupt noch zum Milford Sound!


Gegen zehn Uhr quetschen wir uns gemeinsam mit zwei weiteren Pärchen in den blau-rot-weißen Heli und erheben uns kurz darauf in die Lüfte. Wir fliegen zunächst am Ostufer des Lake Wakatipu entlang und erleben zum zweiten Mal am Tag einen Regenbogen über dem Wasser! Hinter dem Jesse Peak steuert unser rotbärtiger Pilot Gerard den Heli zunächst nach Norden, überquert kurz vor Pig und Pidgeon Island den See und bringt uns in die beeindruckende Bergwelt westlich von Wakatipu, wo sich das türkisgrüne Band des Caples River durch dicht bewaldetes Gebiet schlängelt. Wir überfliegen karge Bergrücken westlich des 2.343 Meter hohen Mount Bonpland und erspähen unseren dritten Regenbogen!


Je weiter wir nach Nordwesten kommen, desto spektakulärer gestaltet sich der Ausblick auf die weißen Gletscherfelder, blau und türkisgrün leuchtenden Seen und zerklüfteten Bergspitzen im Gebiet der Humboldt und Darran Mountains. Und schließlich taucht mein Sehnsuchtsort Milford Sound vor uns auf! Der rund vierzehn Kilometer lange und bis zu 320 Meter tiefe Fjord ist umgeben von steil aufragenden Bergen - darunter der wunderschöne Mitre Peak, der seinen Namen in Anlehnung an die traditionelle liturgische Kopfbedeckung christlicher Bischöfe erhielt.


Wir landen auf dem kleinen Flugplatz und wählen dann den Foreshore Walk, der uns am Rand des Cleddau River Deltas entlangführt. Nach dem Spaziergang durch ein bezauberndes Buchenwäldchen erreichen wir einen weitläufigen, von Treibholz übersäten Steinstrand und laufen bis zum Ufersaum weiter, wo sich Fluss und Meer vereinen und die über 1000 Meter hohen Bergspitzen eine dramatische Kulisse bilden. Östlich von uns stürzen sich die imposanten Bowen Falls 161 Meter in die Tiefe. Mein Sehnsuchtsort enttäuscht mich nicht im Geringsten. Er ist unglaublich schön! Sogar das Wetter zeigt sich von seiner besten Seite: strahlend blauer Himmel, wenig Wind, angenehme Temperaturen. Unser Pilot Gerard bescheinigt uns großes Glück: Solche perfekten Bedingungen finde man hier selten, es regne an 260 Tagen im Jahr. Tatsächlich befindet sich der Milford Sound in einer der regenreichsten Gegenden der Erde. Er soll zwar auch bei schlechtem Wetter eine Schau sein, dennoch bin ich froh darüber, ihn bei Sonnenschein bewundern zu dürfen!


Leider muss ich mich schon bald wieder von seinem Anblick losreißen. Wir heben ab, drehen eine letzte Runde über diese traumhafte Gegend und dann entschwindet der Fjord unserem Blickfeld. Zum Trübsal blasen gibt es jedoch keinen Grund: Fünf Minuten später erkunden wir bereits die wunderbare Gletscherwelt rund um Mount Tutoko, in der mehrere Seen in den unterschiedlichsten Grünschattierungen leuchten. Kurz darauf erspähen wir das gewundene, im Sonnenlicht silbern erstrahlende Band des Hollyford River und überfliegen ein weiteres Mal die Humboldt Mountains.


Westlich von Mount Bonpland wird es abenteuerlich: Pilot Gerard ist auf der Suche nach einer Quelle, um seinen Durst zu stillen. In beunruhigend geringer Höhe fliegt er die Berghänge ab und landet schließlich neben ein paar Gletscherresten auf extrem gerölligen Terrain. Wir staksen vorsichtig durch die unwirtliche Gegend, balancieren über Steine, bewundern die Aussicht und... frieren. Es ist so kalt hier, dass wir weiße Atemwölkchen ausstoßen. Der hartgesottene Gerard läuft trotzdem im kurzen Hemd herum und schöpft Wasser aus dem eiskalten Bach. 


Wenig später schweben wir auf Lake Wakatipu zu, sehen die Region um Glenorchy aus der Vogelperspektive und fliegen über die gelbbraunen, wolkenverhangenen Richardson Mountains, Lake Luna und Arthurs Point zum Flughafen von Queenstown zurück, wo wir wohlbehalten nach insgesamt zwei Stunden landen. Ein grandioser Trip liegt hinter uns! Wir werden ihn sicherlich als eines der Highlights unserer Weltreise in Erinnerung behalten...


Mein Mann und ich wollen das schöne Wetter noch ein wenig ausnutzen und statten dem charmanten Goldgräberstädtchen Arrowtown einen Besuch ab. Wir flanieren auf der Hauptstraße an den hübsch restaurierten Gebäuden aus der Zeit des Goldrausches vorbei, die heute Cafés, Restaurants, Boutiquen und andere Geschäfte beherbergen. Im urigen Lokal „The Stables“ - tatsächlich ein ehemaliger Stall aus dem Jahr 1873 - essen wir eine Kleinigkeit zu Mittag und schauen anschließend noch kurz bei der teilweise restaurierten chinesischen Goldgräbersiedlung vorbei, die zu ihren Hochzeiten bis zu 3.500 Bewohner beherbergte.


Nach diesem Ausflug kehren wir zur „Azur Lodge“ zurück und genießen in unserer Villa ein letztes Mal die Abendstimmung über dem Wakatipu-See. Die Bergspitzen erglühen rot im Licht der untergehenden Sonne. Wie werde ich diesen Ausblick vermissen...


Unser letztes Abendessen in Neuseeland nehmen wir im „Blue Kanu“ ein, das uns gestern von Guide Ben und mehreren Gefährten wärmstens empfohlen wurde. Im sorgfältig durchgestylten Restaurant mit hinterleuchteten Masken an den Wänden und Lampenschirmen aus geflochtenem Flachs wird pazifisch-asiatische Fusionsküche zelebriert. Wir kosten das malaysische Mee Goreng mit geräuchertem Tempeh, Tofu, Sambal und einer knusprigen Frühlingsrolle. Ein ungewöhnliches Geschmackserlebnis!