Tag 72, 24.7., Mit Mühen ins Reich der Mitte, mit Regenschirm in die Verbotene Stadt


Am frühen Morgen verpassen wir sogar das Frühstück im Flugzeug, weil wir immer noch selig schlummern. Ich wache erst von der Durchsage auf, dass wir uns bereits kurz vor Peking befinden. Nach elfeinhalb Stunden Flug landen wir um kurz nach sechs Uhr Ortszeit im Reich der Mitte - und finden uns in einer Welt wieder, deren Abläufe uns fremd sind. Kaum haben wir das Flugzeug verlassen, müssen wir in der riesigen Ankunftshalle an einem Automaten unsere Fingerabdrücke einscannen. Anschließend füllen wir ein gelbes Einreiseformular aus, stellen uns in die seeeehr lange Schlange vor den Schaltern der Grenzpolizei und rücken in Zeitlupe vor. Als wir endlich an die Reihe kommen, blättert die junge Polizeibeamtin stirnrunzelnd in meinem Pass, besieht sich das Formular und stellt dann fest, dass wir - da wir kein Visum besitzen - bei ihr erst mal an der falschen Adresse sind. Na, wunderbar. 


Sie schickt uns zu einem Schalter für kurzzeitige Aufenthalte, den wir nach einigem Herumgeirre schließlich finden. Natürlich steht auch hier wieder eine lange Menschenschlange an. Als wir bereits einige Minuten gewartet haben und gerade dabei sind, ein blaues Formular auszufüllen, kommt ein junger Polizist herbeimarschiert und fordert die hintere Hälfte der Wartenden herrisch auf, ihm zu folgen. Was soll das denn nun? Wir kennen uns gar nicht mehr aus. Der Polizist wird ungeduldig, im Befehlston macht er noch einmal klar, dass wir mitkommen sollen. Also eilen wir hinter dem Generalfeldmarschall her, der uns zu einem anderen Schalter führt, an dem ebenfalls Kurzaufenthalte bearbeitet werden.


Auch hier heißt es wieder warten, bis wir endlich an der Reihe sind - bei dem herzallerliebsten Polizisten von vorhin. Er besieht sich gelangweilt meine Formulare und gibt von oben herab in barschem Ton Anweisungen. Er will die Telefonnummer von unserem Hotel, er will einen Beweis haben, dass wir China in drei Tagen wieder verlassen. Dann muss ich erneut meine Fingerabdrücke abnehmen und mich fotografieren lassen. Mal bin ich dem Typen zu weit weg von der Kamera, dann wieder zu nah. Mittlerweile nervt mich der unfreundliche Zeitgenosse dermaßen, dass ich ihm am liebsten ins Gesicht springen würde. Von Olaf will er dann auch noch mal die Telefonnummer unseres Hotels haben - wenn das keine Schikane ist, weiß ich auch nicht.


Endlich klebt uns der Polizist das ersehnte „Temporary Entry Permit“ in die Pässe und wir dürfen zur Megaschlange an den Einreiseschaltern zurückkehren. Ich überzeuge zwei Ordnerinnen davon, meinen Mann und mich gleich wieder zu den Schaltern vorzulassen. Die junge Polizistin gibt nach Durchsicht der Papiere grünes Licht und wir können endlich in Richtung Baggage Claim und Ausgang weitergehen. Beides befindet sich jedoch an einem ganz anderen Terminal! Also wieder warten - dieses Mal auf den Zug, der uns schließlich zur gewünschten Station bringt. Dort erwartet uns die nächste Überraschung: Auf den Bildschirmen mit Infos zur Gepäckausgabe ist unser Flug gar nicht mehr aufgeführt. Ich muss mich also bei einer Mitarbeiterin nach der Nummer des entsprechenden Gepäckbandes erkundigen. Als wir dort ankommen, schwant mir bereits Übles. Und tatsächlich: Bei den wenigen Koffern, die einsam ihre Runden drehen, sind unsere nicht dabei!


Mir reicht es jetzt endgültig. Ich bin müde, verschwitzt, genervt und jetzt FEHLT AUCH NOCH UNSER GEPÄCK! Es ist zum Haareraufen! Nach einem lautstarken Fluch steuere ich das „Lost and found“-Büro an und schildere unser Problem. Die Angestellte verweist mich völlig desinteressiert an den „Air China“-Schalter. Wir rennen also dorthin und sehen vor dem Büro einige herrenlose Koffer herumstehen. Oh Wunder, unsere sind darunter! Hurra! Jetzt heißt es „nur noch“ SIM-Karte kaufen, durch den Zoll latschen, das Gepäck durchleuchten lassen und darauf hoffen, dass der Fahrer, der uns abholen sollte, nicht schon aufgegeben hat. Zum Glück erfüllt sich dieser Wunsch, als wir zum Ausgang kommen. Geschafft! Zweieinhalb Stunden nach Landung können wir dem Flughafen endlich den Rücken kehren...


Von der anschließenden Fahrt in die Stadt bekomme ich nicht viel mit, weil ich erschöpft einschlafe und erst kurz vor Ankunft wieder erwache. Olaf erzählt mir von der starken Polizeipräsenz auf den Straßen. Da unser Fahrer kein Wort Englisch spricht, sind wir froh, als er uns beim richtigen Hotel absetzt. In „The Opposite House“ erwartet uns ein hoch aufstrebendes, durchgestyltes Atrium. Transparente Stoffbahnen fallen in Wellenform vom Glasdach herab und über die weißen, im Raum schwebenden Kugeln flimmern Filmszenen. 


Wir werden an der Rezeption freundlich empfangen und dann zu unserem Zimmer 419 im vierten Stock gebracht - einem großen Raum von puristischer Eleganz. Farblich herrscht das Weiß der Wände und Vorhänge sowie der warme Braunton des Bodens und des schnörkellosen Mobiliars aus Holz vor. Lange halten wir uns hier nicht auf, sondern frühstücken erst einmal Bircher Müsli und Eierspeisen im „Village Café“ im Erdgeschoss. Dann gönnen wir uns endlich eine Dusche, putzen uns die Zähne und fühlen uns wieder besser.


Um 13 Uhr startet bereits unser Besichtigungsprogramm: Kim, unsere Reiseleiterin für die nächsten Tage, stellt sich vor und führt uns zum Wagen. Darin erwartet uns der gleiche Fahrer von vorhin, von dem wir nun auch den Namen erfahren: Mr. Wan. Während er uns durch Pekings geschäftige Straßen chauffiert, erzählt die burschikose Kim uns bereits einige Fakten zu Peking (21 Millionen Einwohner!) und seiner Geschichte. Ich muss schmunzeln, als unsere Reiseleiterin beiläufig erwähnt, sie komme aus einer Stadt unweit von Peking - sie liege nur 800 Kilometer entfernt. Dieser Kommentar führt einem die gigantischen Ausmaße des Landes vor Augen!


Mr. Wan setzt uns in der Nähe des Tian‘anmen-Platzes ab, uns besser als Platz des Himmlischen Friedens und als der Ort bekannt, an dem am 04. Juni 1989 die Proteste der chinesischen Demokratiebewegung durch das Militär gewaltsam beendet wurden. Theoretisch fasst die 39,5 Hektar große Fläche bis zu eine Million Menschen, doch jetzt liegt das riesige Areal verwaist vor uns. Wegen einer Veranstaltung ist der Platz heute nämlich für Besucher gesperrt.


Kim zeigt uns das Zhengyangmen-Tor, das im Jahr 1421 als Haupttor der Inneren Stadt und somit als höchstes und prächtigstes Tor erbaut wurde, den vorgelagerten Wachturm, das Mausoleum von Mao Zedong und das Parlamentsgebäude. Dann passieren wir unter Maos wachsamen Augen bei strömendem Regen das Tor des Himmlischen Friedens am nördlichen Ende des Platzes und kommen durch das mächtige Mittagstor in die Verbotene Stadt, die in den Jahren 1406 bis 1420 erbaut wurde und ihren Namen deshalb erhielt, weil der einfachen Bevölkerung der Zutritt verwehrt war. Bis zur Revolution im Jahr 1911 lebten und regierten hier die chinesischen Kaiser der Dynastien Ming und Quing. 


Unsere Reiseleiterin Kim kann dem regnerischen Wetter Positives abgewinnen - das bedeute weniger Touristen und bessere Luft, versichert sie uns. Ich bin über die kalten Windböen zwar nicht sonderlich erfreut, lasse mich aber während unserer zwei Stunden währenden Erkundung immer wieder von der Pracht und den gigantischen Dimensionen ablenken, die sich um mich herum entfalten: Sage und schreibe 890 Paläste und unzählige Pavillons mit 8.886 Räumen bilden die Verbotene Stadt, der gesamte Baukomplex hat eine Grundfläche von 720.000 Quadratkilometern. 


Den größeren Teil der Fläche nehmen die Zeremonial- und Funktionsgebäude im Süden ein, in denen außer den Eunuchen auch hohe Beamte arbeiteten und Gesandte zur Audienz erschienen. Die geschwungenen, mit gelb glasierten Ziegeln gedeckten Pagodendächer, weißen Steinbalustraden, roten Außenwände und Säulen, bunt verzierten Holzbalken und bronzenen Wächterlöwen sind ein Fest für die Augen. Wir durchschreiten riesige Höfe und kommen an beeindruckenden Bauten mit klangvollen Namen wie der „Halle der Höchsten Harmonie“ vorbei, die auf einer dreistufigen Steinterrasse steht, von 24 Säulen getragen wird und den Drachenthron beherbergt. Krönungen, Trauungen und die Verleihung von Titeln wurden hier abgehalten. Im Inneren Hof, bestehend aus dem Palast der Himmlischen Reinheit, der Halle der Berührung von Himmel und Erde und dem Palast der Irdischen Ruhe, lebte die kaiserliche Familie sowie hunderte Hofdamen, Konkubinen und Eunuchen.


Als wir gegen Ende der Führung den Kaiserlichen Garten betreten, merke ich plötzlich, was mir bei all der Palastpracht fehlte: die Natur! Kein einziges Bäumchen, kein Blumenbeet wurde in den Höfen geduldet. Ich finde den Gartenbereich - das frische Grün, die rosafarbenen Blüten der Trompetenbäume, die golden schimmernden Bronzelöwen, knorrigen Stämme, niedlichen Boden-Mosaike und schmucken roten Pavillons - einfach nur zauberhaft. Hätte ich zu Kaisers Zeiten im Palast gelebt, wäre ich sicher oft hierher gekommen...


Nachdem wir die Verbotene Stadt verlassen haben, bringt Mr. Wan uns durch den dichten Verkehr zur Unterkunft zurück. Ich bin verfroren und vom Kulturprogramm sowie der langen Anreise geplättet. Da es meinen Mann ebenfalls nicht mehr nach draußen zieht, lassen wir uns das Abendessen aufs Zimmer bringen und ruhen uns endlich etwas aus.