Das Handy klingelt uns früh am Morgen aus den Federn, denn wir werden schon um acht Uhr von Kim und Mr. Wan abgeholt. Heute steht ein ganz besonderes Highlight auf dem Programm, auf das wir uns schon lange gefreut haben: ein Besuch der Chinesischen Mauer! Wer hat nicht Bilder von dieser historischen Grenzbefestigung vor Augen, die hinsichtlich Volumen und Masse als das größte Bauwerk der Welt gilt?
Wenn ihre einzelnen Teile auch nicht alle miteinander verbunden sind und zu unterschiedlichen Zeiten erbaut wurden, dürfte Donald Trump angesichts ihrer Ausdehnung trotzdem vor Neid erblassen: Der Abschnitt zwischen Shanhaiguan, Yumenguan und Yangguan hält mit einer Länge von 3.460 Kilometern den Weltrekord als längste Mauer der Welt! Viele Bereiche des Bauwerks werden durch den chinesischen Staat mittlerweile permanent restauriert, sodass sich der 600 Kilometer lange Abschnitt bei Peking in gutem Zustand befindet. Wir sind gespannt!
Unsere Vorfreude hindert uns jedoch nicht daran, den Großteil der eineinhalbstündigen Fahrt zu verschlafen. Wenn ich kurz aufwache und aus dem Fenster blicke, kommen wir gerade durch grüne, üppig sprießende Natur oder idyllische Baumalleen. Schließlich erreichen wir das Mutian-Tal und werden von unserem Chauffeur an einer Straße „ausgesetzt“. Kim zeigt auf die steil aufragenden Berghänge und unser Ziel, das kaum erkennbare Band des Mutianyu genannten Mauerabschnitts in luftigen Höhen. Olaf und ich sind kurz irritiert: Wandern wir da jetzt hinauf? Das sieht ganz nach einer mehrstündigen Aktion aus. Ich beglückwünsche mich im Stillen, dass ich geeignetes Schuhwerk angezogen habe.
Natürlich setzt Kim uns dann doch keinem Gewaltmarsch aus, sondern bringt uns zum Besucherzentrum, dessen Infrastruktur komplett auf den Ansturm von Touristen eingestellt ist: Neben dem Ticketschalter gibt es diverse Verkaufsstände, Restaurants und Fastfood-Kettren wie Burger King und Subway. Wir nehmen einen Shuttle-Bus, der uns näher an unser Ziel heranbringt und müssen uns dann entscheiden, wie wir den verbleibenden Höhenunterschied überwinden wollen: in der Gondel oder im Sessellift. Wir wählen den Lift und schweben zur Mauer hinauf. Nach ein paar letzten Treppenstufen „stehen wir in der Geschichte“, wie mein Mann ehrfürchtig bemerkt.
Forscher gehen davon aus, dass der Bau der Großen Mauer bereits im 7. Jahrhundert vor Christus begann; die einzelnen Abschnitte bestanden aus festgeklopftem, mit Stroh- und Reisigschichten vermischten Lehm und dienten als Schutz gegen die sich untereinander befehdenden Chinesen. Im Jahr 214 vor Christus ließ der erste chinesische Kaiser, Qin Shihuangdi, im Gebirge Schutzwälle aus aufeinander geschichteten Natursteinplatten errichten, die das Reich gegen die Völker aus dem Norden schützen sollten.
Der Bau des Abschnitts, den wir heute besichtigen, begann Mitte des 6. Jahrhunderts. In der Ming-Dynastie errichtete man die jetzige Mauer auf den alten Fundamenten: Das 2.250 Meter lange, mit Zinnen besetzte Bauwerk schlängelt sich die Berghänge hinauf und hinunter und folgt dabei zum Teil der Kammlinie der Gebirgszüge. Insgesamt 22 trutzige Wachtürme ragen aus der sieben bis acht Meter hohen und vier bis fünf Meter breiten Granitmauer empor.
Es ist ein grandioses Panorama, das sich uns bietet. Und wiederum haben wir großes Glück: Kim wird nicht müde, zu bekräftigen, dass häufig schlechteres Wetter herrscht, man dann nicht so weit sehen kann und normalerweise viel mehr Trubel herrscht. Heute ist es aus unerfindlichen Gründen recht ruhig hier oben, obwohl die Sonne warm vom blauen Himmel strahlt. Wir spazieren in gemächlichem Tempo die Mauer entlang, folgen ihrem stetigen Auf und Ab und freuen uns über den leichten Wind, der für eine willkommene Erfrischung sorgt. Ich kann mich gar nicht sattsehen an dem imposanten Steinband, das sich vor uns durch die grün bewaldeten Hänge windet und sich selbst auf den schrofferen Gebirgszügen in der Ferne fortsetzt. Ein wunderschöner Anblick, der einen fast vergessen lässt, welch enorme Anstrengung und auch welches Leid mit der Errichtung dieses Schutzwalles verbunden ist. Hunderttausende, wenn nicht gar Millionen von Menschen - vor allem Zwangsarbeiter - ließen bei dem Jahrhunderte währenden Bau ihr Leben.
Nachdem wir fast zwei Stunden lang die Mauer besichtigt haben, wird es Zeit für den Abstieg. Wir nutzen dafür die Sommer-Rodelbahn, deren metallene Rinne sich in vielen Kurven und sogar über eine Brücke den Hang hinabschlängelt. Die Fahrt macht Spaß, nur leider müssen wir immer wieder abbremsen, um nicht in die langsameren Rodler vor uns zu donnern.
Kurze Zeit darauf gabelt uns Herr Wan wieder auf und bringt uns zu einem großen Restaurant im Ort Qiaozizhen. Kim bestellt gleich mehrere Gerichte, die wir uns zu viert teilen: Shrimps im Teigmantel, Hühnchen süß-sauer mit Lauchzwiebeln, Gemüse mit Pilzen, einen riesigen Klumpen Brot sowie Auberginenstücke in einer leckeren Sauce. Das Brot sowie die Auberginen schmecken mir persönlich am besten. Unsere Reiseleiterin holt ein Döschen aus ihrer Tasche hervor und kredenzt uns kurz darauf intensiv duftenden Jasmintee.
Als wir alle pappsatt sind, machen wir uns auf den Rückweg nach Peking. Mir kommt die Fahrt gar nicht lange vor, denn ich unterhalte mich die ganze Zeit mit Kim, die mir wirklich sympathisch ist: Sie nimmt kaum ein Blatt vor den Mund und scheut auch nicht davor zurück, Kritik an der chinesischen Regierung zu üben. Eine unangepasste Frau Anfang Vierzig, die sich bislang standhaft weigert, zu heiraten - trotz des Drucks, den ihre Mutter ausübt. Sie berichtet von ihrer Kindheit in den Achtzigern, als das Leben für ihre Familie noch deutlich härter war als heute und es sogar an Essen mangelte.
Nüchtern schildert sie die Enttäuschung ihrer Großmutter darüber, dass die Schwiegertochter nur ein Mädchen nach dem anderen „lieferte“. Sie schmiedete heimlich den Plan, die jüngste Enkelin Kim in eine andere Familie abzuschieben. Als diese anrückte, um Kim mitzunehmen, erfuhr ihre Mutter zum ersten Mal von dem Vorhaben und lehnte es kategorisch ab, ihre Tochter herzugeben. Als ich mein Entsetzen ob dieser Geschichte bekunde, meint Kim ganz trocken, dass es schlimmer hätte kommen können: Viele Mädchen seien damals einfach getötet worden. Die Folgen sind auch heute noch zu spüren: China hat es mit einem deutlichen Männerüberschuss zu tun, Millionen von ihnen finden keine Ehefrau.
Nach unserer angeregten Plauderei verabschieden wir uns beim „Opposite Hotel“. Den restlichen Nachmittag nutzen Olaf und ich, um Fotos zu sondieren und am Reisebericht weiterzuschreiben. Am Abend bestellen wir wieder Essen aufs Zimmer und genießen nach getaner „Arbeit“ das Nichtstun.