Nach dem Frühstück holt Kim meinen Mann und mich um halb neun Uhr ab und überrascht uns im Auto mit Geschenken: einem gerahmten Bild von Olaf und mir auf der Chinesischen Mauer sowie zwei Früchten, die witzigerweise „hässliche Orangen“ genannt werden. Wir bedanken uns erfreut und machen uns dann auf den Weg zu unserem ersten Programmpunkt. Da die Polizei mehrere Hauptstraßen gesperrt hat, muss die junge Chauffeurin Frau Chau kreativ werden, um uns im Verkehrschaos voranzubringen. Nichtsdestotrotz benötigen wir für die 18 Kilometer lange Strecke ganze eineinhalb Stunden und sind froh, als wir endlich an unserem Ziel, dem Himmelsaltar (Tiāntán), aussteigen können. Es handelt sich dabei um eine 274 Hektar große Tempelanlage, in der die 22 Kaiser der Ming- und Quing-Dynastien in aufwendigen Opferritualen dem Gott des Himmels huldigten und für eine gute Ernte beteten.
Wir kommen zunächst an dem mit grünen Kacheln bedeckten Gebäude vorbei, wo Opfertiere wie Ochsen, Schafe und Schweine ihr Leben aushauchten, und gehen dann den 293 Meter langen Korridor entlang, der den Schlacht-Pavillon mit der Göttlichen Küche sowie dem Göttlichen Warenhaus verband. Zu früheren Zeiten wurden auf diesem Weg Opfergaben wie Jade, Seide und Früchte zu den Altären transportiert, heute sitzen hier Rentner zwischen den Säulen und sind ins Kartenspiel vertieft.
Durch ein Tor gelangen wir ins Innere des Tempelbezirks und bestaunen den Anblick, der sich uns bietet: Auf einer dreistufigen, kreisförmigen Marmorterrasse thront die wunderschöne, überwiegend in Blautönen gehaltene „Halle der Ernteopfer“, ein 36 Meter breiter und 38 Meter hoher Rundbau. Sie wurde im Jahr 1420 von Kaiser Yongle errichtet und nach einem Brand im Jahr 1890 neu aufgebaut. Ich werfe einen Blick ins Innere der Halle und bin beeindruckt von ihrer Farbenpracht: 28 teils rote, teils rotgoldene Säulen, welche den Kreislauf der Zeit symbolisieren, tragen das Dach. Unzählige Verzierungen in Gold-, Türkis- und Blautönen schmücken Wände und Kuppel.
Über die 360 Meter lange Danbi-Brücke spazieren wir zum südlichen Teil der Anlage hinüber, wo sich die ebenfalls kreisrunde, etwas kleinere „Halle des Himmelsgewölbes“ erhebt. Sie ist von der „Echomauer“ umgeben, an deren runder Form Schallwellen entlanglaufen und an jedem Punkt der Mauer wahrgenommen werden können. Spricht man also gegen die Mauer, kann man selbst auf der gegenüberliegenden Seite hören, was gesagt wurde. Theoretisch zumindest. Auf dem Platz herrscht ein derartiger Trubel und Lärm, dass man sowieso kaum sein eigenes Wort versteht. Wir verzichten also auf eine Hörprobe und bewundern lieber die jahrhundertealten Wacholderbäume, Kiefern und Zypressen, die hier gepflanzt wurden.
Unsere Besichtigung endet auf der kreisförmigen, dreistufigen Altarterrasse, wo der Kaiser - der sich sich selbst als „Himmelssohn“ sah -, dem Himmel in der Nacht zur Wintersonnenwende ein Tieropfer darbringen ließ.
Nach so viel geistiger Nahrung müssen wir uns erst einmal körperlich stärken. Frau Chau setzt uns an einem hübschen Restaurant ab, und Kim und ich wälzen die bebilderte Speisekarte. Bald stehen die von uns in einer Gemeinschaftsaktion ausgewählten Gerichte dampfend auf dem Tisch: frittierte Kartoffelbällchen mit süßem Dip, Gemüse mit Glasnudeln in Knoblauchsauce, mit Ei umhüllte Kürbisstäbchen, deftige Pfannkuchen sowie Hühnchenfleisch süß-sauer. Mir wird dabei bewusst, wie abwechslungsreich die chinesische Küche eigentlich ist.
Nachdem wir zu Ende gegessen haben, wird es Zeit für das zweite Highlight des heutigen Tages, den Neuen Sommerpalast. Der riesige kaiserliche Garten mit seinen zahllosen Höfen, Hallen, Laubengängen und Pavillons entstand zwischen 1751 und 1764 als Geschenk des Quinlong-Kaisers zum 60. Geburtstag seiner Mutter. Nachdem er zweimal (1860 und 1900) von europäischen Streitkräften geplündert und teilweise zerstört worden war, ließ Regentin Cixi - auch bekannt als mächtige „dragon lady“ - ihn wieder aufbauen und als ihren Alterssitz herrichten. Vor allem ihr verdankt das Palastareal sein vorherrschendes Motiv: den Wunsch nach einem langen Leben. Seine Symbole finden sich allerorten wieder - zum Beispiel in den Bronzekranichen vor der „Halle des Altwerdens durch Güte“, in der Beamte und Gesandte empfangen wurden.
Wir flanieren an der „Halle der Jadewogen“ vorbei, in der Cixi ihren Neffen, den vorletzten Mandschu-Kaiser, zehn Jahre unter Hausarrest stellte, und lugen durch schmutzige Fensterscheiben in die einstigen Wohnräume der Kaiserin in der „Halle der Freude und Langlebigkeit“. Daran schließt sich das berühmteste Bauwerk des Palastareals an: der 728 Meter lange Wandelgang, der mit 8.000 farbenfrohen historischen, mythologischen und landschaftlichen Szenen sowie Tier- und Blumenmotiven bemalt ist und sich am Nordufer des großen Kunming-Sees entlangzieht. Hier schieben sich stellenweise so viele Gruppen durch, dass wir mitunter das Weite suchen und abseits im Schatten der Bäume ein wenig Ruhe vor den Menschenmassen finden.
Nach dem Ende des Wandelgangs zieht ein kurioses Kunstwerk unsere Aufmerksamkeit auf sich: Was zunächst wie ein Raddampfer wirkt, der am Kai vertäut ist, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als „Fake“. Dieses „Schiff“ würde sofort untergehen, denn sein Rumpf besteht gänzlich aus Marmor. Wir betreten stattdessen ein richtiges Boot, das bald über das grüne Wasser des Kunming-Sees gleitet. Von Bord aus haben wir einen wunderbaren Blick auf die tibetischen Klosterbauten am bewaldeten Nordhang.
Unweit der Siebzehn-Bogen-Brücke gehen wir wieder an Land, verlassen die 290 Hektar große Anlage und werden von Frau Chau zu unserem Hotel zurückgebracht. Dort verabschieden wir uns herzlich von unserem „wandelnden Lexikon“ Kim, die ihr Bestes getan hat, um uns die reiche chinesische Geschichte und Kultur in der kurzen Zeit etwas näher zu bringen. Den Abend verbringen wir auf dem Zimmer und kümmern uns fleißig um den Reiseblog.