Aus dem Bett bin ich zwar nicht gekugelt, habe aber eine kurze, unruhige Nacht hinter mir. Der Futon ist ungewohnt dünn und weich, durch das dünne Papier der Schiebetüren fällt früh am Morgen Licht in den Raum und lässt mich nicht mehr richtig schlafen. Als wir das Speisezimmer betreten, wartet ein original japanisches Frühstück auf uns: Anstelle von Müsli, Brot, Marmelade und Butter gibt es Suppe, Fischstücke, Reis, eingelegtes Gemüse, Pilze etc. Beim Anblick der Speisen wird mir leicht übel. Fisch auf nüchternen Magen? Schwierig. Ich überwinde mich und probiere mehrmals, aber der Geschmack ist überhaupt nicht mein Fall. Während Olaf sich über das Frühstück hermacht, stochere ich nur ein wenig in den Schälchen herum. Mein Mann schwankt angesichts meines von Ekel verzerrten Gesichts zwischen Mitleid und Belustigung.
Kurze Zeit später ist seine gute Laune dahin, weil der Reißverschluss an seinem relativ neuen Victorinox-Koffer den Geist aufgibt und das Verschließen des Gepäckstücks damit unmöglich wird. Angesichts unserer morgigen Weiterreise braucht Olaf unbedingt Ersatz - und zwar heute noch. Zunächst lernen wir jedoch erst einmal unseren Guide Koichi Tanaka kennen, einen relativ großen Japaner um die Dreißig. Er führt uns durch die schmalen, von zweistöckigen Häuschen gesäumten Straßen unseres am westlichen Stadtrand gelegenen Stadtteils Arashiyama in Richtung der nächsten U-Bahn-Station. In Bahnhofsnähe betreten wir einen Weg, der von zahlreichen Glaszylindern flankiert wird. Sie alle enthalten Kimono-Stoffe in unterschiedlichen Farben und Mustern, für die Kyōto bekannt ist. Wir treffen immer wieder auf junge japanische Touristinnen mit aufwendiger Frisur und Blumen im Haar, die sich einen farbenfrohen Kimono ausgeliehen haben, um sich an besonderen Plätzen ablichten zu lassen. Und davon gibt es in hier eine ganze Menge, war Kyōto doch von 794 bis 1868 Sitz des kaiserlichen Hofes. Da der Ort während des Zweiten Weltkrieges von Bombardierungen verschont blieb, ist Kyōto mit seinen 1.600 buddhistischen Tempeln, 400 Shintō-Schreinen, Palästen und Gärten heute eine der besterhaltenen Städte Japans und gilt als das kulturelle Zentrum des Landes.
Bevor wir uns jedoch auf die Sehenswürdigkeiten stürzen können, fahren wir erst einmal mit der U-Bahn zum Hauptbahnhof und kaufen in einem nahe gelegenen Einkaufszentrum einen neuen Koffer für Olaf. Nachdem wir das Gepäckstück bei einem Lieferservice abgegeben haben, geht es mit der eigentlichen Besichtigungstour los: Wir beginnen beim Fushimi Inari-Taisha, einem der ältesten und bekanntesten Shintō-Schreine Kyōtos. Ein scharlachrotesTorii, ein großes Holztor mit zwei Querbalken, markiert den Eingang zum Schrein. Wir treten hindurch und tauchen von der Alltagswelt in die Sphäre des Sakralen ein. An einem Waschbecken aus Bambusrohren und Stein (chōzuya) reinigen sich die Besucher mit bereitgestellten Schöpfkellen die Hände, um anschließend bei den diversen Gebetshallen (haiden) ihre Gebete an eine der 8 Millionen Gottheiten (Kami) zu richten. Nach einer Geldspende läuten die Gläubigen die Glocke am haiden, klatschen zweimal in die Hände, um die Aufmerksamkeit des Kami zu erhalten, beten und verbeugen sich anschließend, um ihren Respekt zu zeigen. An Gestellen hängen Hunderte von Miniatur-Torii, die mit den Namen und Bitten der Besucher beschriftet sind.
Wir betreten die eindrucksvollen Torii-„Alleen“, welche einen Hügel hinaufführen. Tausende von Toren reihen sich eng aneinander und bilden eine Art scharlachroten Tunnel. Auf der einen Seite der Pfosten sind in schwarzen Schriftzeichen die Namen der Spender - Einzelpersonen, Familien und Unternehmen - eingeritzt. Auf dem Hügel befindet sich der honden, das eigentliche Heiligtum. Das Allerheiligste, ein Spiegel, ist öffentlich einsehbar, darf aber nicht fotografiert werden. Auch hier oben können Gläubige ihre Wünsche auf Plättchen oder kleine Papier-Kimonos schreiben und sie anschließend aufhängen.
Wir erkunden noch ein wenig das Areal, schlendern durch einen hoch aufschießenden Bambuswald und bewundern die gestifteten Steinlaternen neben den Wegen. Obwohl zahlreiche Menschen den Schrein besuchen - die Japaner haben wegen des anstehenden Thronwechsels am 01. Mai gerade zehn Feiertage -, ist es hier deutlich leiser als beispielsweise am Himmelsaltar in Peking. Ich finde die beruhigende Atmosphäre und das Zusammenspiel der Farben - das leuchtende Orangerot der Torii und Gebäudebalken, das Grün des lichten Waldes, das Grau der Laternen - bezaubernd.
Wir verlassen den Schrein und fahren mit der U-Bahn bis zur Station Gion-Shijo, wo unser Guide mit uns ein Tempura-Restaurant am Fluss Kamo besuchen möchte. Leider ist dieses vollbesetzt und wir müssen auf ein deutlich weniger charmantes Lokal in der Nähe ausweichen. Auf der Speisekarte sind fast ausschließlich Gerichte mit Schweinefleisch aufgeführt und ich habe meine liebe Not, etwas anderes zu finden. Koichi überredet mich dazu, die Spezialität Ramen ohne Fleisch zu bestellen. Ich lasse mir also die dampfende Suppe bringen, kämpfe mit meinen Essstäbchen gegen die schlüpfrigen langen Nudeln an und werde von unserem Guide - der sich die fleischhaltige Version bestellt hat -, darauf hingewiesen, dass Schlürfen durchaus erwünscht sei, um das Aroma besser schmecken zu können. Er selbst macht es lautstark vor, ich schließe mich an. Aroma hin oder her: Zu meinem Lieblingsgericht wird Ramen trotzdem nicht.
Nach dem Mittagessen schlendern wir im Stadtzentrum durch einen Teil der riesigen Kaiserlichen Gärten (Kyōto Gyoen) mit ihren rund 50.000 Bäumen und bewundern die letzten zartrosa Kirschblüten sowie die hellgrün leuchtenden Miniblätter des Japanischen Ahorns. Anschließend sehen wir uns im Komplex des Kaiserlichen Palastes, dem Gosho, um, der bis zum Jahr 1869 als kaiserliche Residenz diente, im Laufe der Jahrhunderte mehrmals abbrannte und immer wieder aufgebaut wurde.
Zunächst flanieren wir am Okurumayose entlang, unter dessen sanft geschwungenem Dach die Kutschen hochrangiger Adeliger parkten, kommen an den drei Wartezimmern (Shodaibu-no-na) vorbei, in denen die Besucher nach Rängen getrennt im „Raum der Tiger“, „Raum der Kraniche“ sowie „Raum der Kirschblüten“ (nach den Motiven an den Schiebetüren) untergebracht wurden, und werfen einen Blick auf das Kenreimon, das Haupttor an der Südseite des Palastes, das bei wichtigen Staatszeremonien benutzt wurde. Direkt dahinter befindet sich ein zweites, scharlachrotes Tor, das zum Shinshinden, dem wichtigsten Palastgebäude, führt. In der Halle für die Staatszeremonien wurden beispielsweise mehrere Kaiser inthronisiert. Ursprünglich stand hier der 6,5 Meter hohe und acht Tonnen schwere Herrschersitz Takamikura, der sich mittlerweile jedoch in Tokio befindet und auf die Krönung des neuen Kaisers Naruhito wartet. Wir werfen noch kurz einen Blick auf die Halle des Heiligen Spiegels (Shunkōden), wo wie bei den meisten Gebäuden des Palastkomplexes die Farben Dunkelbraun und Weiß vorherrschen. Golden glänzende Beschläge an den Türen, Brüstungen und am Dach bilden einen hübschen Kontrast zum dunklen Holz.
Nachdem wir die mit Zypressenrinde gedeckte Halle der Riten und Rituale (Seryōden) - vom 9. bis zum Ende des 16. Jahrhunderts Wohnstätte der Kaiser - in Augenschein genommen haben, kommen wir zum Kogosho-Palast und dem Oikeniwa-Garten, in den ich mich sofort verliebe. Er ist komplett durchgestylt, wirkt aber nicht unnatürlich, sondern wie ein zutiefst harmonisches Feenreich. Im Wasser des Teiches spiegeln sich elegante Brücken, feuerrote Azaleen und die verschiedenen Grünnuancen der Bäume. Ebenso bezaubernd ist der Gonatei-Garten mit seinen malerisch platzierten Laternen und Steinblöcken, durch den ein künstlich angelegtes Bächlein fließt.
Nach dem Besuch des Kaiserpalastes nehmen wir Bus und Bahn, um zum Kinkaku-ji zu gelangen, einem buddhistischen Tempel im Nordwesten Kyōtos. Da die Zeit bereits drängt, fokussieren wir uns auf das glänzende Highlight der Anlage, die am Kyōkochi-Teich liegende Reliquienhalle (Shariden). Im Jahr 1397 erbaut, fiel sie 1950 einer Brandstiftung zum Opfer und wurde sechs Jahre später originalgetreu rekonstruiert. Jede der drei Etagen des Pavillons ist in einem anderen Stil gehalten, Blattgold überzieht die beiden oberen Stockwerke zur Gänze. Die beiden Dächer sind im Stil der Pagoden leicht nach außen geschwungen und auf dem höchsten Punkt thront der sagenumwobene Vogel Fenghuang ganz in Gold. Es sieht wunderschön aus, wie sich das kunstvolle Bauwerk im Wasser des Teiches spiegelt.
Wir müssen uns aber schließlich doch von seinem Anblick losreißen, weil wir am späten Nachmittag noch eine Teezeremonie gebucht haben. Mit der U-Bahn fahren wir zum Zentrum zurück und laufen den restlichen Weg zum Fukujuen Kyoto Flagship Store. Mittlerweile - nach fast 15 Kilometern Fußmarsch, den unzähligen Treppenstufen und dem Trubel der Stationen zusätzlich zum Schlafmangel - sind sowohl Olaf als auch ich erschöpft und freuen uns darauf, uns ausruhen zu können. Mit dem Lift fahren wir in eines der oberen Stockwerke und werden von einer älteren, anmutigen Japanerin im Kimono freundlich empfangen. Sie leitet die Teezeremonie und muss uns, assistiert von Übersetzer Koichi, jeden Schritt davon erklären, weil wir logischerweise überhaupt keine Ahnung haben.
Zunächst reinigen wir uns mit Hilfe einer Schöpfkelle an einem steinernen Wasserbassin die Hände und den Mund, anschließend ziehen wir die Schuhe aus und öffnen nach genauen Vorgaben die niedrige Seitentür des Teeraums, um demutsvoll durch sie hindurchzukriechen und auf Knien zu dem uns zugewiesenen Platz zu rutschen. Die Teemeisterin bringt die benötigten Utensilien wie Teedose, Bambuslöffel und Teebesen (Chasen) herein und bereitet im Kniesitz den zu Pulver vermahlenen Grüntee (Matcha) nach einem strengen Ritual zu. Sie schlägt die Flüssigkeit mithilfe des Besens schaumig und stellt die Teeschalen nacheinander so auf die Matte, dass ihre verzierten Seiten in unsere Richtung zeigen. Wir haben das Dekor zu bewundern, die Schale in bestimmter Weise zu nehmen und zweimal zu drehen, sprechen Sätze auf Japanisch nach und trinken schließlich den dickflüssigen Tee - Schlürfen beim letzten Schluck wird vorausgesetzt. Im Anschluss dürfen wir das Getränk selbst zubereiten und es uns gegenseitig servieren. Wir machen wahrscheinlich tausend Fehler, doch die Teemeisterin lächelt freundlich, nickt aufmunternd und gibt uns das Gefühl, nicht wie völlige Idioten dazustehen. Nach dem Besichtigungsmarathon des Tages ist die ruhige Zeremonie genau das Richtige, um einen Gang herunterzuschalten.
Bevor sich unser Reiseleiter Koichi nach diesem interessanten Erlebnis in den Feierabend verabschiedet, organisiert er noch ein Taxi, das uns zur Unterkunft zurückbringt. Um 19 Uhr erwartet uns dort im privaten Speiseraum ein opulentes, aus mehreren Gängen bestehendes Abendessen: mit Ingwer gefüllte Aubergine, Suppe, Fisch und Meeresfrüchte in allen Variationen (roh, Tempura, im Sud), Salat, Gemüse, Reis und Rindfleisch-Scheiben sowie Papaya-Gelee als Nachspeise. Optisch sieht alles sehr ansprechend aus und schmeckt mir teilweise auch ganz gut, aber ein richtiger Fan der japanischen Küche werde ich wohl nicht mehr.