Nach einem üppigen (westlichen!) Frühstück im sehr vollen Restaurant des „Conrad“ machen wir uns um zehn Uhr zur Lobby auf, wo bereits Akemi auf uns wartet. Die junge Japanerin wird uns heute ein wenig mit der Metropole Tokio vertraut machen.
Auf Olafs Wunsch hin fahren wir zunächst zur Kaiserlichen Residenz im Zentrum. Zwar ist das Palastareal aufgrund der Abdankung des alten Kaisers und der morgigen Krönung seines Sohnes gesperrt, zumindest können wir aber einen Blick auf die steinerne Zweibogenbrücke Seimon-ishibashi und die eiserne, von dem Deutschen Wilhelm Heise konstruierte Nijūbashi-Brücke werfen. Wir halten uns auch ein wenig bei der Garden Plaza, einem Teil der Kokyogaien National Gardens, auf. Die 2.000 Japanischen Schwarzkiefern auf dem hellgrünen Rasen bilden einen reizvollen Kontrast zu den Bürotürmen, die im Hintergrund emporragen.
Unsere Reiseleiterin möchte uns gerne ein paar Facetten des modernen Tokio zeigen. Zunächst fahren wir mit der U-Bahn zur Station Omote-Sandō und schlendern dann durch das schicke Viertel Minami-Aoyama im Bezirk Shibuja, vorbei an den Läden der exklusiveren Modemarken („Stella McCartney“, „Issey Miyake“...) und an Gebäuden mit interessanter, ausgefallener Architektur. Unser Ziel ist das Nezu-Kunstmuseum, das schon von außen eine gute Figur macht. Die an der Fassade angebrachten, dezent von unten beleuchteten Bambusstäbe harmonieren perfekt mit der grünen Bambus-„Wand“, die jenseits des ausladenden Daches parallel dazu angepflanzt wurde. In der großen Haupthalle des Museums sind einige jahrhundertealte Buddhastatuen aus China ausgestellt, in den Nebenräumen sehen wir wunderschön bemalte Wandschirme aus der Edo-Zeit (1608 bis 1868), von denen wir leider keine Fotos machen dürfen - zarte Blumenmotive von Kitagawa Sōsetsu, von goldenen Wolken eingerahmte Szenerien aus Kyōto und Umgebung, die aus der Vogelperspektive detailliert Pilger-Prozessionen und andere Aktivitäten zeigen, sowie die besonders geschätzten Schwertlilien auf goldenem Grund von Ogata Kōrin.
Kurze Zeit später können wir die Originale bewundern, denn zum Kunstmuseum gehört ein verwunschener Garten mit geschwungenen Pfaden, Steinskulpturen und ein paar Farbtupfern: hier eine rote Azalee, dort ein üppiger Blauregen, der von einem Spalier „herabfließt“ und schließlich die Gruppe von Iris, deren Blüten sich in leuchtendem Violett vom frischen Grün der Stängel und Blätter abheben. Selbst der Regen kann dem Zauber des Gartens keinen Abbruch tun. Apropos Regen: Wir machen am Museum noch eine amüsante Entdeckung. Vor dem Eingang gibt es Gestelle, in denen man seinen Schirm einhaken und mit einem Schloss sichern kann! Akemi zufolge ist Tokio zwar sehr sicher, aber Regenschirme werden schon gerne mal geklaut.
Nach dem Nezu-Museum fährt die Reiseleiterin mit uns zu „Gonpachi Nori-Temaki“, ihrer liebsten Sushi-Bar, die uns mit Jazzklängen und angenehmer Lichtstimmung empfängt. Wir nehmen am langen, die Küche umschließenden Holztresen Platz, studieren die bebilderte Karte und notieren unsere Wünsche auf einem Zettel. Bald werden uns die Temaki serviert. Anders als die mit einer speziellen Bambusmatte gerollten Maki stellen sie die „lässige“ Sushi-Variante dar: Auf einem knusprigen Algenblatt sind ein Salatblatt, Reis und die gewünschte Füllung aufeinander geschichtet. Wir drücken alles selbst mit der Hand zu einer Art Rolle zusammen und tunken sie in Sojasauce. Akemis und meine absolute Lieblingsfüllung besteht aus Lachs, Frischkäse und getrocknetem Basilikum. Hmmmm...
Als Nächstes nehmen wir wieder die U-Bahn und steigen bei der Station Shibuya aus, wo wir den Ausgang „Hachikō“ wählen. Er ist nach Japans berühmtestem Hund benannt, denn genau hier ereignete sich in den Jahren 1924 bis 1935 eine zu Herzen gehende Geschichte: Der reinrassige Akita Hachikō holte sein Herrchen Ueno Hidesaburōs täglich nach Feierabend am Bahnhof ab. Im Mai 1925 erlag der Professor während des Unterrichts einer Hirnblutung. Hachikō wartete dennoch ganze zehn Jahre lang, bis zum Ende seines Hundelebens, vor dem Bahnhof Shibuya auf seinen besten Freund. Er gilt in Japan noch heute als Inbegriff der Treue, ein Bronzedenkmal erinnert an das loyale Tier.
Bevor wir den quirligen Bahnhofsplatz wieder verlassen, werfen wir noch einen Blick auf die berühmt-berüchtigte Hachikō-Kreuzung: Bei Grün strömen Tausende Fußgänger gleichzeitig aus allen Richtungen über die Straße. Das sieht zwar chaotisch aus, funktioniert aber anscheinend doch ohne größere Zusammenstöße.
Im Untergeschoss des Kaufhauses am Bahnhof schlendern wir über die ausgedehnte „Fressmeile“, wo sich ein Stand an den anderen reiht und optisch ansprechend in Szene gesetzte Leckereien anbietet: Fisch- und Fleischgerichte, Salate, eingelegtes Obst und Gemüse, chinesische Klöße, indisches Curry, Eis, Küchlein und alle möglichen anderen Süßigkeiten. Olaf und ich suchen uns ein eckiges Stück Biskuittorte mit Sahnefüllung und frischen Erdbeeren aus, das geradezu himmlisch schmeckt. Heute bin ich mit Japans kulinarischem Angebot sehr zufrieden...
Nach den süßen Gaumenfreuden fahren wir eine Station weiter und erkunden anschließend ein wenig den trendigen Stadtteil Daikanyama, in dem sich kleine exklusive Boutiquen, Cafés, Schmuck- und Accessoire-Läden angesiedelt haben. Ein schickes Viertel, das aber nicht überkandidelt wirkt und sich eine gewisse Lässigkeit bewahrt hat. Wir stöbern eine ganze Zeit in dem stylischen Komplex Daikanyama Tsutaya Books (T-SITE) herum, der schon von außen eine Schau ist: Drei Gebäude, deren weiße Fassade aus unzähligen miteinander verwobenen „T’s“ besteht, sind im Erdgeschoss durch einen 55 Meter langen Korridor namens „Magazine Street“ miteinander verbunden. Im Inneren bieten sechs Abteilungen - Küche, Reise, Autos und Motorräder, Architektur und Design, Kunst sowie Geisteswissenschaften und Literatur - eine überwältigende Fülle an Büchern und Zeitschriften an. Direkt neben den Kochbüchern steht eingelegtes Gemüse, Olivenöl und Fisch zum Verkauf bereit. Hunde- und Panda-Magazine sind ebenso zu finden wie die Werke westlicher Autoren, seien es nun die Liebesschnulzen von Nicholas Sparks oder Klassiker von Orwell und Kafka. Ich traue mich gar nicht, das Angebot an Bildbänden und Romanen in deutscher und englischer Sprache genauer in Augenschein zu nehmen, weil ich sonst mächtig in Versuchung käme, etwas zu kaufen - und angesichts der Alarmstufe Gelb-Rot in meinem Koffer wäre das eine schlechte Idee.
In dem Komplex gibt es jedoch nicht nur Bücher, sondern auch eine riesige Auswahl an CD‘s (die Akemi zufolge erstaunlicherweise bei vielen Japanern noch nicht ausgedient haben), Schallplatten, DVD‘s und Schreibwaren. Wenn man sich vom Stöbern erholen will, kann man sich umgeben von Tausenden alter Magazine in die weichen Sessel der stylischen Anjin Lounge sinken lassen, einen Cocktail schlürfen und gleichzeitig in einem Buch schmökern. Ich kann gut nachvollziehen, warum Akemi dieses Geschäft zu ihrer Lieblingsbuchhandlung auserkoren hat!
Als wir wieder ins Freie treten, kommen wir noch an einem Hundesalon vorbei. Der Anblick der kleinen Wuschels, die gerade brav das Herumschnippeln und Kämmen über sich ergehen lassen, ist so putzig, dass wir für ein paar Minuten am Schaufenster kleben bleiben. Ein Schnauzer, dem gerade die Augenbrauen gestutzt werden, wirft mir einen leicht irritierten Blick zu, als wollte er sagen: „Was machen die hier mit mir?!“
Schließlich neigt sich unsere Besichtigungstour dem Ende zu. Akemi besorgt uns noch ein Taxi, dann sagen wir Lebewohl. Den Abend verbringen Olaf und ich entspannt auf im Hotel und lassen uns vom Zimmerservice ein weiteres Mal kulinarisch verwöhnen.