Da wir für den heutigen Tag keinen Guide gebucht haben, können wir erst einmal lange schlafen und sind völlig frei in unserem Tun. Nach einem späten und ausgiebigen Frühstück kehren wir aufs Zimmer zurück und kümmern uns um die Website. Am Nachmittag melden sich bei mir die Hummeln, während Olaf einfach mal nur relaxen und keine größere Besichtigungstour unternehmen möchte. Er begleitet mich jedoch in den nahe gelegenen Hamarikyū Park, eine grüne Oase der Ruhe mit Blick auf die Hochhäuser der Umgebung. Wir schlendern durch das 2,5 Quadratkilometer große Areal nach Südosten in Richtung Tokio-Bucht, wo sich eine Anlegestelle für Wasserfahrzeuge befindet. Hier trennen sich unsere Wege: Olaf kehrt zum Hotel zurück und ich betrete das rote, niedrige Boot der Sumida River Line. Ein bisschen nervös bin ich schon bei dem Gedanken, mich alleine in den Großstadtdschungel zu wagen, aber die Hummeln haben schließlich das letzte Wort.
Ich ergattere einen Platz am offenen Fenster und genieße während der nächsten fünfzig Minuten den Ausblick auf die Großstadt, während wir dem Fluss Sumida unter 16 Brücken hindurch flussaufwärts folgen. Büro- und Wohntürme säumen das Ufer, doch dazwischen finden sich immer wieder auch kleine „Schuhschachteln“ und sehr schmale Häuser, die sich mit minimalem Abstand aneinanderreihen.
Bei der Anlegestelle Asakusa verlasse ich das Boot und habe bereits vom Steg aus einen guten Blick auf interessante Bauten am anderen Ufer. Bei dem vierstöckigen, schwarzen Granitblock, der von einer riesigen, 360 Tonnen schweren Goldflamme gekrönt wird, handelt es sich um das vom französischen Designer Philippe Starck entworfene Asahi-Brauhaus. Mein Geschmack ist es nicht, die Flamme wirkt plump und sieht für mich eher wie ein aus der Tube gedrücktes Stück Senf aus. Das Gebäude selbst macht den abweisenden Eindruck einer Festung. Da gefällt mir der im Jahr 2012 eröffnete Skytree, mit seinen 634 Metern der größte Sendeturm der Welt, schon besser: Schlank und elegant wie ein Zepter strebt er dem Himmel entgegen.
Bei strömendem Regen schlängele ich mich durch wahre Menschenmassen bis zum Donnertor Kaminarimon, in dessen Mitte ein riesiger roter Lampion - 3,30 Meter hoch und rund 100 Kilogramm schwer - alle Blicke auf sich zieht. Durch das Tor gelange ich auf das Areal des Sensō-ji, des ältesten Tempels der Stadt. Seine Geschichte geht bis ins frühe 7. Jahrhundert zurück: Der Legende nach zogen zwei Fischer eine kleine Buddhastatue aus dem Sumida-Fluss. Sie warfen die Figur wieder ins Wasser zurück, doch geriet sie später noch ein paar Mal in ihr Netz. So fiel die Entscheidung, in Ufernähe einen Tempel zu Ehren des Buddhas der Barmherzigkeit (Kannon Buddha) zu errichten. Seitdem wurde dieser mehrmals zerstört und wiederaufgebaut, sodass heute ein Großteil der Gebäude aus der Nachkriegszeit stammt.
Hinter dem Donnertor schlendere ich die Gasse Nakamise-dōri entlang, die schnurgerade auf den inneren Tempelbereich zuführt und von zahlreichen Verkaufsbuden gesäumt wird. Ihr Sortiment reicht von Flipflops und Fächern über Essstäbchen und Haarteilen bis hin zu Schwertern und Süßigkeiten. Kurz vor dem Schatzhaustor (Hōzōmon) mache ich einen Abstecher in die Quergasse, wo kleine Holzhäuschen für ein besonderes Flair sorgen und anmutige junge Japanerinnen in farbenfrohen Kimonos Schutz vor dem Regen suchen. Dann schreite ich durch das imposante Hōzōmon-Tor mit seinen zwei ausladenden Dächern und großen Laternen und komme in den inneren Tempelbereich.
Zu meiner Linken erhebt sich in einiger Entfernung eine fünfstöckige Pagode mit goldener Spitze, und jenseits des Platzes vor mir duckt sich die Haupthalle Kannondō unter ihrem dominanten Dach. Ein ständiges Scheppern dringt an mein Ohr, das von den Häuschen zu beiden Seiten des Platzes kommt. Besucher können hier nach einer kleinen Spende ein Omikuji ziehen und sich damit die Zukunft vorhersagen lassen. Während sie für die Erfüllung eines Wunsches beten, schütteln sie eine Metallbox hin und her, bis ein Stöckchen herausfällt, das eine bestimmte Nummer zeigt. Von den zahlreichen kleinen Schubladen an der Regalwand wird diejenige geöffnet, die mit der gezogenen Nummer übereinstimmt, und einen Zettel mit der Weissagung enthält. Verspricht das Blatt Glück, nimmt man es erleichtert mit nach Hause. Verheißt er Pech, knotet man den Zettel an eine Art Wäscheleine und lässt so das Unglück zurück. Es spricht übrigens nichts dagegen, sein Glück ein weiteres Mal zu versuchen und wieder ein Stöckchen zu ziehen...
Da die Prognosen auf Japanisch verfasst sind, halte ich mich bei diesem Ritual zurück und gehe lieber zu dem großen Metallbecken, an dem Gläubige Räucherstäbchen anzünden, sie durch Wedeln in der Luft löschen und dann schwelend im Sand zurücklassen. Für mich als Deutscher sind die mit Swastiken bedruckten Stäbchen ein etwas seltsamer Anblick. Im Westen assoziiert man mit dem Hakenkreuz natürlich sofort das Kennzeichen der Nationalsozialisten und somit etwas Negatives, dabei hat die Swastika einen jahrtausendealten Ursprung und wird im Buddhismus, Hinduismus und Jainismus bis heute als religiöses Glückssymbol verwendet. Ich kopiere das Verhalten der Einheimischen und fächele mir mit der Hand den aufsteigenden, duftenden Rauch zu, dem eine heilende Wirkung nachgesagt wird.
Ein paar Meter nach dem Becken halte ich an einem Brunnen an, dessen Wasser sich aus den Mäulern kleiner Metalldrachen ergießt. Bambuskellen liegen bereit, um die rituelle Reinigung vor dem Tempelbesuch durchführen zu können. Anschließend geht es über mehrere Stufen in die Haupthalle hinauf, wo die Gläubigen sich vor einem üppig verzierten goldenen Schrein verneigen und beten.
Nachdem ich mich in aller Ruhe umgesehen und die besondere Atmosphäre des Tempels in mich aufgesogen habe, laufe ich auf der Nakamise-dōri in Richtung des Donnertors zurück und bummele dann durch eine überdachte Einkaufspassage zur U-Bahn-Station Asakusa. Da sowohl der Netzplan als auch die Berechnung des Fahrpreises leicht zu durchschauen ist, habe ich keinerlei Probleme am Ticketautomaten. Ich steige in die gut gefüllte Bahn der Ginza-Linie und ergattere auf der 20-minütigen Fahrt sogar einen Sitzplatz.
An der Station Shimbashi steige ich aus - und bin erst einmal komplett verloren. Es gibt diverse Ausgänge, doch keiner davon benennt den Weg zum Shiodome-Komplex und somit zu meinem Hotel. Minutenlang stehe ich vor dem Übersichtsplan und werde nicht schlau daraus. Die Hilfe naht in Form eines älteren Japaners, der meine Not erkennt und mich in gutem Englisch fragt, wo ich denn hinwolle. Er bedeutet mir, ihm zu folgen, lotst mich ein Stück durch das unterirdische Labyrinth und gibt mir Instruktionen für den weiteren Weg, bevor er mich verlässt. Mit seiner Hilfe und dank der zahlreichen Übersichtskarten finde ich schließlich doch noch zum „Conrad“ zurück. Erleichtert betrete ich bekannten Boden und freue mich, dass mein kleines Großstadtabenteuer ein gutes Ende genommen hat.
Mittlerweile verspüre ich einen Bärenhunger und schleppe meinen Mann zu einem nicht sehr authentischen Italiener namens „La Pausa“ im Gebäude nebenan. Leicht belustigt bestelle ich ein Glas Sangría und wähle Caprese als Vorspeise, Pizza Margherita als Hauptgang und Tiramisu als Dessert. Die recht überschaubaren Portionen schmecken okay. Zurück auf dem Zimmer mache ich mich mal wieder ans Packen, denn morgen verlassen wir Japan und reisen nach Nepal weiter!