Wegen der Zeitverschiebung wachen wir heute bereits vor dem Handyalarm auf, bleiben aber dann noch faul auf dem Bett liegen. Unser Frühstück nehmen wir in einem der idyllischen Innenhöfe des Hotels ein und bedienen uns mehrfach an dem geradezu opulenten Büffet. Olaf fährt gegen halb zwölf Uhr mit Uttam zum Flughafen und sammelt unsere Koffer ein, die wie angekündigt eingetroffen sind. Wir freuen uns über frische Kleidung, Deo und so weiter!
Der Beginn der Stadtbesichtigung wird nach hinten verlegt, denn von Indien her ist ein Sturm heraufgezogen, der für starken Wind und Regen sorgt. Als wir um 14 Uhr aufbrechen, hat sich das schlechte Wetter jedoch schon wieder weitgehend verzogen. Bei der Fahrt durch Kathmandu werden wir schnell mit seinen Schattenseiten konfrontiert. Offiziell hat die Stadt rund 1,5 Millionen Einwohner, doch Uttam zufolge ist die wirkliche Anzahl wohl dreimal so hoch - mit gravierenden Begleiterscheinungen: Es mangelt an sauberem Trinkwasser, die Stromversorgung ist überlastet, der Verkehr ein einziges Chaos. Laut einer Studie von 2017 steht die Stadt bei den am meisten verschmutzten Städten weltweit an siebter Stelle. Die Luftqualität ist aufgrund der vielen Fahrzeuge, schlecht asphaltierten Straßen, der Müllhalden, der Lage im Talkessel etc. miserabel, ich spüre sie schon bald an meinen brennenden Augen und dem Kratzen im Hals. Viele Einwohner tragen Mundschutz oder halten sich ein Tuch vor Mund und Nase.
Besonders ansehnlich ist die Stadt auch nicht (mehr). Überall ziehen sich Dutzende Stromkabel von Mast zu Mast, die Altstadtbauten mit ihren kunstvoll geschnitzten Fensterrahmen aus Holz im newarischen Stil verfallen und werden durch schmucklose Betonbauten ersetzt. Die meist engen Straßen sind zum Teil nicht asphaltiert und haben sich nach dem Regen in Schlammpisten verwandelt. Herrenlose Hunde rollen sich unbeachtet im Dreck zusammen, die Armut und das harte Leben ist manchen Menschen ins Gesicht geschrieben: Ausgemergelte Alte staksen die Straße entlang, sichtlich erschöpfte Träger in abgerissener Kleidung schleppen gebückt ihre riesigen Bündel, ein Bettler mit fehlenden Gliedmaßen und zerstörtem Gesicht hält die Hand auf.
Und doch entfaltet das kulturelle Zentrum Nepals schon bei unserem ersten Stopp am Durbar Square einen Zauber, dem ich mich nicht entziehen kann. Der Platz, auf dem Händler ihre „echt antiken“ Schätze wie Metallschalen, Dolche und Schmuck ausgebreitet haben, ist von Dutzenden Tempeln, Türmen, Götterstatuen und den Palastgebäuden umgeben, in denen bis Anfang des 20. Jahrhunderts die Könige residierten. Als am 25. April 2015 ein verheerendes Erdbeben der Stärke 7,8 und seine Nachbeben das Land erschütterten, starben nicht nur Zehntausende Menschen, sondern auch zahllose Bauten wurden schwer beschädigt oder ganz zerstört. Rund um den Durbar Square sind die Verwüstungen noch sichtbar, doch mit Hilfe ausländischer Gelder laufen Renovierungsarbeiten an den jahrhundertealten Tempeln und Palastgebäuden - beispielsweise am neunstöckigen Basantapur-Turm, der momentan noch eingerüstet ist.
Uttam zeigt uns zunächst die mit wunderbaren, detailverliebten Schnitzereien geschmückte Fassade sowie den ebenso prächtigen Innenhof des Kumari Chowk, des Wohnsitzes von Kathmandus „lebender Göttin“ Raj Kumari. Sie gilt seit dem 16. Jahrhundert als eine Reinkarnation der hinduistischen Göttin Taleju und wird als Kleinkind anhand von 32 körperlichen Merkmalen und ihres Geburtshoroskops aus einer angesehenen Familie der buddhistischen Newar-Elite ausgewählt. Sie hält sich dann fast ausschließlich im Haus auf und führt dort ein zurückgezogenes Leben. Ein paarmal im Jahr nimmt die rot gekleidete Kumari an religiösen Festen teil und segnet Pilger. Nach dem Eintreten der ersten Regelblutung erlischt ihr Göttinnenstatus und sie muss den Wohnsitz verlassen.
Nach dem Kumari Chowk schlendern wir an diversen Tempeln wie dem achteckigen Chyasin Dega und dem im 16. Jahrhundert erbauten Jagganath Mandir vorbei, die für mich mehr „Persönlichkeit“ besitzen als so manche religiöse Stätte, die wir in China und Japan besucht haben. Vielleicht liegt es neben ihrer prachtvollen Architektur auch daran, dass man ihnen ihr Alter ansieht. Sie sind nicht auf Hochglanz poliert, großteils nicht aus neuen Materialien wieder aufgebaut. Ihrer Patina wohnt ein Zauber inne. Völlig aus der Reihe fällt optisch der weiße Anbau des Königspalasts Gaddi Baithak, der Anfang des 20. Jahrhunderts im neoklassizistischen Stil erbaut wurde.
Wir kommen an der ziemlich furchteinflößenden, auf einem Dämonen tanzenden Götterfigur Kal Bhairav vorbei, die aus einem 3,5 Meter hohen Felsblock gehauen wurde und der regelmäßig Tieropfer dargebracht werden. Man hüte sich davor, vor ihrem Angesicht zu lügen, denn der Legende nach erbricht man dann sofort Blut und haucht sein Leben aus.
Vor dem im Jahr 1564 erbauten Taleju Mandir, der sich auf einer zwölfstufigen Plattform 37 Meter hoch erhebt und der größte Tempel der Stadt ist, treffen wir kurz darauf auf einen orange gekleideten, langbärtigen Sadhu („Heiliger Mann“). Er bedeutet mir, mich neben ihn zu setzen, tupft mir ein Segenszeichen (Tikala) auf die Stirn und hat nichts dagegen, sich fotografieren zu lassen. Natürlich erwartet er dafür eine kleine Spende. Anschließend werde ich selbst zum Fotomotiv: Eine nepalesische Familie bedeutet mir, dass sie gern ein Bild von mir und ihrer kleinen Tochter machen würde. Verwundert stimme ich zu. Danach wird noch der Sohn an meiner Seite platziert, ein weiteres Foto gemacht und mir gedankt. Uttam zufolge liegt es wohl an meiner hellen Haut, die für Aufmerksamkeit sorgt.
Nach der Fotosession spazieren wir zum Alten Königspalast, den wir über das bunt verzierte Hanuman Dhoka betreten, das nach dem Affengott Hanuman benannt wurde - seine teilweise verhüllte Statue aus dem 17. Jahrhundert steht gleich neben dem Tor. Wir sehen uns auf dem großen Innenhof Nassal Chowk um, dessen Flügel aus Ziegelstein aus dem 16. Jahrhundert stammen und viele mit Schnitzereien verzierte Fenster, Türen und Stützpfeiler aufweisen. Schließlich kommen wir noch am golden glänzenden Ganesh-Schrein Ashok Vinayak vorbei, der von Hindus wie Buddhisten verehrt wird und dem gegenüber Ganeshs Reittier in Form einer großen goldenen Ratte hockt.
Unser nächstes Ziel, der Tempelkomplex Swayambhunath, thront auf einem Hügel im Westen von Kathmandu. Seine inneren Bauten werden auf 2.500 Jahre geschätzt, er gilt als eine der ältesten buddhistischen Tempelanlagen weltweit und zugleich als eines der bedeutendsten Heiligtümer Nepals. Swayambhunath zieht mich sofort in seinen Bann. Es gibt hier so viel zu sehen und in sich aufzunehmen: Tausende von bunten Gebetsfahnen, hinduistische Türme, einige riesige sowie 6.000 kleine Gebetsmühlen, zahllose Schreine und Votivstätten, herumkletternde Affen und schlafende Hunde, die sich von den Pilgern nicht stören lassen. Wir steigen die mehr als dreihundert ausgetretenen Steinstufen zum Gipfel hinauf, wo sich das beherrschende Element der Tempelanlage befindet: Der Stupa mit seiner weiß getünchten Halbkuppel, dem vergoldeten Kubus und den darauf aufgemalten Augen als Symbol des alles sehenden Ur-Buddhas, der in die vier Himmelsrichtungen blickt. Die Spitze des Stupa besteht aus sich nach oben hin verjüngenden Scheiben und symbolisiert die dreizehn Stufen der Erleuchtung, der Schirm repräsentiert die Erlangung letzterer. Übrigens werde ich auch hier wieder von einer Frau gebeten, gemeinsam mit ihrer Tochter für ein Foto zu posieren. Olaf amüsiert sich köstlich und meint, langsam könne ich ein Business draus machen und Geld für ein Bild mit mir verlangen...
Unser letzter Stopp gilt einem anderen Stupa rund fünf Kilometer nordöstlich des Stadtzentrums von Kathmandu. Aufgrund des höllischen Verkehrs brauchen wir ewig, um dorthin zu gelangen, doch die lange Anfahrt lohnt sich. Der Stupa von Bodnath gehört zu den weltweit größten Bauwerken seiner Art und ist seit der Invasion Tibets durch China im Jahr 1959 die zentrale Pilgerstätte aller Exiltibeter in Nepal. Jetzt am frühen Abend umwandeln Dutzende rotgewandeter Mönche, Pilger und Anwohner den Tempel. Wir erklimmen den Sockel des Stupa und umkreisen ihn ebenfalls einmal. Zwar ist er etwas schlichter als sein „Vorgänger“ Swayambhunath, doch mindestens ebenso faszinierend. Seine durchdringenden blauen Augen scheinen einem bis ins Herz zu sehen, die untergehende Sonne bringt das Gold des Kubus und der Spitze zum Leuchten. Der den Stupa umgebende Platz mag zwar hauptsächlich auf Touristen ausgerichtet sein, hat aber (oder gerade deswegen?) einen besonderen Charme: Er wirkt sauber, die aneinandergereihten bunten Häuser befinden sich in gutem Zustand und sind zum Teil mit den schönen, holzgeschnitzten Fenstereinfassungen dekoriert, die auch unserem Hotel seinen besonderen Flair geben. Viele Restaurants verfügen über Dachterrassen mit hervorragendem Blick auf die buddhistische Pilgerstätte.
Wir essen allerdings nicht hier zu Abend, sondern ziehen die Ruhe unserer Unterkunft vor. Im hoteleigenen Restaurant „Toran“ probiere ich heute nach der Vorspeise Bruschetta die Momo-Teigtaschen in der vegetarischen Variante, Olaf entscheidet sich für Frühlingsrollen und ein saftiges Steak. Der restliche Abend vergeht beim Blogschreiben wie im Flug...