Tag 82, 04.05., Fremde Welt Nepal: Kindliche Göttinnen, Sadhus & heilige Kühe


Schon um sechs Uhr morgens klingelt mich das Handy aus dem Schlaf. Ein besonderes Highlight steht heute nämlich auf dem Programm: Ein Flug zum Himalaya-Gebirge mit dem Mount Everest/Sagarmatha in Sichtweite! Nur wenige Wolken ziehen über den Himmel und unser Reiseleiter Uttam ist guter Dinge, dass das Wetter mitspielen wird. Ich versuche, mich trotzdem nicht zu früh zu freuen. Es wäre auf dieser Reise nicht das erste Mal, dass ein Flug gecancelt wird. Und tatsächlich tritt genau dieser Fall ein! Nachdem wir lange auf den Boarding-Aufruf gewartet haben und dann endlich im Bus zum kleinen Flugzeug gebracht worden sind, kommt in letzter Minute der Bescheid: Es ist zu bewölkt, man kann Mount Everest nicht sehen. Wie schade! Unverrichteter Dinge betreten wir wieder das Flughafengebäude. Von Uttam, der auf uns warten wollte, fehlt jede Spur. Wir nehmen also ein winziges, uraltes Taxi, das kurz vor dem Auseinanderfallen steht und fahren auf eigene Faust zum Hotel zurück, wo wir erst einmal ausgiebig frühstücken.


Später meldet sich Uttam auf dem Zimmertelefon und wir besprechen den Beginn unserer heutigen Besichtigungstour. Um elf Uhr fahren wir in die ehemalige Hauptstadt Nepals, nach Patan/Lalitpur, das fast nahtlos in das größere Kathmandu übergeht. Zunächst sehen wir uns den prächtigen Yasodhar Mahavihar (oder Bubahal) an, einer von 18 Haupt-Bahals in Patan. Bahals sind Gebäude, die im rechten Winkel um einen Innenhof herum angeordnet sind; viele von ihnen waren ursprünglich buddhistische Klosteranlagen, werden aber mittlerweile als Wohngebäude benutzt. Im Bubahal existiert nach wie vor ein überbordend verzierter buddhistischer Tempel. Diverse Votivstätten schmücken den Innenhof, goldene Schlangen umgeben einen kleinen Stupa. 


Anschließend besuchen wir die derzeitige Kumari in ihrem Wohnsitz. Die Kindgöttin von Patan, ein wunderhübsches Mädchen von etwa sechs Jahren, erwartet mich sitzend in einem rotgolden glänzenden Kleid und malt mir ein rotes Segenszeichen auf die Stirn. Kaum habe ich hundert Rupien auf den bereitstehenden Teller gelegt, wird die Kumari von ihrer Mutter hochgehoben und in einen anderen Teil des Hauses gebracht. Die Audienz ist vorbei. 


Wir steuern als Nächstes den Durbar Square mit seinem imposanten Königspalast und den zahlreichen Tempeln an. Hier waren die Auswirkungen des Erdbebens von 2015 nicht ganz so verheerend wie in Kathmandu, die Renovierungsarbeiten sind jedoch noch nicht abgeschlossen. Von den Tempeln am Platz zieht sicherlich der außergewöhnliche Krishna Mandir die meisten Blicke auf sich. Der steinerne Tempel in oktagonaler Form wurde im 17. Jahrhundert in einer Mischung aus mogulischem und Sikhara-Stil erbaut, ist von drei übereinanderliegenden Steinveranden eingefasst und mit 21 Spitzen geschmückt.


Wir betreten den Königspalast und betrachten den Flügel Mul Chowk, in dem bis zum Jahr 1769 die königliche Familie residierte. Eine vergoldete, üppig verzierte Tür, die von den indischen Flussgöttinnen Ganga und Jamuna flankiert wird, führt zum Taleju Mandir, an dessen drei Dächern unzählige Glöckchen im Wind vor sich hinbimmeln. Schräg gegenüber ragt der siebenstöckige Degu Talle, das höchste Gebäude des Viertels, empor. Nach einem kleinen Abstecher zum Garten und einem großen, eher unansehnlichen Wasserbecken betreten wir den Innenhof des Sundari Chowk und bewundern das Tusha Hiti, in dem einst der König seine rituellen Waschungen vollzog. Das in den Boden eingelassene Becken aus dem 17. Jahrhundert hat die Form einer yoni (= weibliches Geschlecht), seine Wände und der Beckenrand sind mit hinduistischen Gottheiten verziert, zwei steinerne Schlangen winden sich um das Oval. Der den Hof umgebende Flügel mit seinen aufwendig geschnitzten Torbögen, Fenstern und Götterbildern ist ebenfalls eine Schau. Ich ziehe die Schuhe aus, laufe im ersten und zweiten Stock des düsteren Sundari Chowk herum und spähe aus den teilweise vergitterten Fenstern. 


Wir wechseln zum nördlichsten Palastflügel (Mani Keshab Narayan Chowk) hinüber und besuchen dort das kleine Patan-Museum. In der Dauerausstellung sind Dutzende Götterfiguren aus Bronze, Stein und Holz sowie ein vergoldeter Malla-Thron zu sehen.


Nach all den überbordenden Eindrücken gönnen wir uns auf der lauschigen Terrasse des Museumscafés ein wenig Ruhe und ein leckeres Mittagessen. Danach wartet ein paar Hundert Meter vom Durbar Square entfernt schon das nächste Highlight auf uns: der Goldene Tempel Hiranyavarna Mahavihara. Die prächtige dreistöckige Pagode nimmt eine Seite des kleinen Innenhofs vom Kwa Bahal ein, einem immer noch bewohnten buddhistischen Newar-Kloster aus dem 12. Jahrhundert. Nicht nur die vergoldete Tempelfassade, sondern auch der gesamte Innenhof ist über und über mit äußerst kunstvollen Metallarbeiten verziert. Vom Haupttempel und dem Schrein in der Mitte des Hofes hängen lange Metallbänder hinunter, die den Göttern als „Rutschbahn“ auf die Erde dienen sollen.


Unsere letzte Sehenswürdigkeit des heutigen Tages befindet sich etwa vier Kilometer östlich von Kathmandu. Wir besuchen den Tempelbezirk von Pashupatinath, Nepals heiligsten hinduistischen Pilgerort mit einem der wichtigsten Shiva-Tempel weltweit. Ich war noch nie in Indien, aber so ähnlich stelle ich es mir vor. Auf der Westseite des völlig verdreckten, mit Müll übersäten Flusses Bagmati befinden sich die Ghats, zum Wasser hinabführende Stufen. Rauch liegt in der Luft, weil dort gerade Tote verbrannt werden. In Pashupatinath zu sterben und anschließend auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen, garantiert praktisch die Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten. Am Ende der mehrstündigen Kremation wird die Asche in den Fluss gefegt. 


Hinter den Ghats ragen mehrere Gebäude empor - darunter die vergoldete Pagode des Tempels Pashupati Mandir, der nur für Hindus zugänglich ist. Wir bleiben am östlichen Flussufer, passieren verwegen aussehende Sadhus und werfen einen Blick auf die 15 kastenförmigen Schreine (Shivalaya), welche die Steinterrassen säumen. Auf unserem Rückweg kommen wir noch an einer mit Blumen geschmückten heiligen Kuh vorbei. Es ist eine sehr fremde, aber faszinierende Welt, die sich uns hier zeigt.


Uttam spürt, dass unsere Aufnahmefähigkeit für heute langsam an ihre Grenzen stößt und bringt uns zum Hotel zurück. Wir bleiben den Rest des Tages auf unserem Zimmer und essen dort auch zu Abend. Meine Hauptbeschäftigung besteht darin, all das Erlebte niederzuschreiben. Ich brauche dafür mehrere Stunden - kein Wunder bei der Fülle an Eindrücken! 


Kathmandu - Patan - Yasodhar Mahavihar, Kumari, Durbar Square


Kathmandu - Patan - Königspalast, Museum, Goldener Tempel


Kathmandu - Tempelbezirk Pashupatinath