Nach dem gemeinsamen Frühstück haben Olaf und ich heute unterschiedliche Pläne: Mein Mann möchte sich nach all den Aktivitäten der letzten Tage einmal ausruhen, ich hingegen gehe mit Uttam für ein paar Stunden auf Erkundungstour. Wir wandern zunächst auf steilen Wegen durch das weitläufige Areal des Resorts und kommen an diversen gerahmten Sinnsprüchen, Mini-Stupas und goldenen Gongs vorbei. Oben auf dem Hügel bietet sich trotz des Dunstes ein schöner Blick auf die bewaldeten Steilhänge und Terrassenfelder der Umgebung, wo momentan Getreide und während des Monsuns Reis angebaut wird. Als wir einige Minuten auf ebenem Pfad dahinspaziert sind, lenkt der Reiseleiter meine Aufmerksamkeit auf den Wegesrand: Das üppige Grün, das hier wild wächst und gedeiht, ist Cannabis. Obwohl der Handel und Konsum von Marihuana und Haschisch Mitte der 1970er Jahre offiziell verboten wurde, existiert in Nepal eine lange Tradition des Kiffens - Hindumythen zufolge hat schon Gott Shiva es vorgemacht!
Wir lassen den Hanf links liegen und steigen über ausgetretene, unregelmäßige Treppenstufen einen Hang hinab. Obwohl es bei rund dreißig Grad sehr warm ist, genieße ich als waschechtes Landei die Wanderung, die Ruhe sowie Flora und Fauna - beispielsweise den Anblick eines rot blühenden Christusdorns oder einer Henne mit ihren Flauscheküken. Ein wenig Abstand von den lauten Städten tut gut. Nach einer knappen Stunde erreichen wir östlich des Dorfes Kavre Bhanjyang die Straße H06, an der wir auf unseren Fahrer warten. Ein Straßenhund nach dem anderen gesellt sich zu uns, sodass uns schließlich fünf der freundlichen Vierbeiner Gesellschaft leisten.
Im Auto geht es auf nicht asphaltierten, extrem holprigen Wegen in Richtung unseres nächsten Ziels, einer der drei heiligsten tibetischen Wallfahrtsstätten südlich des Himalaya. Der arme Wagen gibt ungesunde ächzende und quietschende Geräusche von sich, während er sich langsam durch Rinnen, Schlaglöcher und über große Steine quält. Gut durchgeschüttelt erreichen wir schließlich Namobuddha bzw. das im Jahr 1978 gegründete und seitdem erweiterte Thrangu Tashi Yangtse Kloster, das auf einem bewaldeten Bergrücken thront und die Heimstatt von mehr als 250 Mönchen ist. Ansprechend, ordentlich und gut in Schuss sehen die rot-weißen Gebäude aus. Dass es hier in den letzten Jahren keinen Mangel an Spenden gegeben hat, zeigt sich auch im sechsstöckigen, von goldenen geschwungenen Dächern gekrönten Haupttempel, der Ende 2008 offiziell eröffnet wurde: Pfeiler und Decke der Eingangshalle sind aufwendig mit bunten Farben bemalt und mit Schnitzereien verziert. Auf dem Weg zum vierten Stockwerk kommen wir an einem großen Mandala vorbei, welches das von Dämon Yama umklammerte Lebensrad zeigt.
Die beeindruckende Tempelhalle darf ich leider nicht fotografieren. Ihre Farbenpracht und Detailfülle verschlägt mir fast den Atem. Vergoldete Bronze-Buddhas, geschmückte Pfeiler, Mandalas an den Decken, dargebrachte Lebensmittel - ich weiß gar nicht, wo ich zuerst hinsehen soll! Dagegen wirkt der kleine Stupa ganz oben auf dem Hügel, zu dem wir im Anschluss hinaufgehen, fast wohltuend schlicht. Ich genieße eine Weile den Panoramablick von der Plattform, dann zeigt Uttam mir eine Votivstätte, in derem Inneren eine Tafel aus Stein die Legende dieses Ortes darstellt: Ein junger Prinz entdeckte in einer Höhle eine Tigerin, die gerade fünf Jungen geboren hatte und dem Hungertod nahe war. Aus Mitgefühl opferte der Prinz sich selbst: Er schnitt sich, bot dem Tier sein Blut an und ließ sich von ihm fressen.
Wir folgen einem von Hunderten von Gebetsfahnen gesäumten Weg durch den Wald und kommen zu dem Stupa, der auf den Knochen und dem Haar des Prinzen errichtet worden sein soll. Kleinere Stupas und Gebetsmühlen umgeben ihn, ein Pilger führt hier mithilfe eines Priesters gerade Rituale für ein verstorbenes Familienmitglied durch.
Schließlich verlassen wir die Wallfahrtsstätte und rumpeln wieder über abenteuerliche „Straßen“ und durch Weiler hindurch, in denen die Zeit stehengeblieben zu sein scheint: Eine Dorfbewohnerin wäscht gerade Kleidung in einer Schüssel, eine andere schleppt tief gebeugt einen Kartoffelsack auf ihrem Rücken, Ziegen und Schafe liegen direkt neben den schlichten Häusern.
Schließlich erreichen wir Panauti, die am besten erhaltene Newar-Siedlung des Landes. Uttam führt mich zum östlichen Ende der kleinen Stadt, wo sich am Zusammenfluss der Bäche Punyamati und Roshi die Ghats und das malerische Tempelareal Khware befinden. Im Moment werden keine Leichen verbrannt, stattdessen dringt Trommelmusik an unser Ohr, die uns auf die andere Seite des Baches lockt. Wir gehen an Bündeln von Knoblauchzehen vorbei zum Ort des Geschehens und werden zufällig Zeugen eines besonderen Ereignisses: Auf dem Platz haben sich Dutzende von rotgekleideten Newari-Frauen mit ihren präpubertären Töchtern versammelt, um das Bel Bibaha zu vollziehen, die rituelle Verheiratung mit der Hindu-Gottheit Vishnu. Für ihre erste Heirat hat man die kleinen Mädchen wie Prinzessinnen herausgeputzt: Sie tragen rote Festtagsgewänder, reichlich goldenen (Mode-)Schmuck und sind stark geschminkt. Als einzige Touristin steche ich natürlich heraus, werde neugierig beäugt und komme ich mir in meinem Funktionsshirt und der beigen Wanderhose ziemlich underdressed vor. Trotzdem freue ich mich, hier zu sein und ein wenig in Kontakt mit den lokalen Traditionen zu kommen.
Uttam zeigt mir die jahrhundertealte Pilgerunterkunft Ghat Sattal, deren Außenwände mit zahlreichen Fresken geschmückt sind, die Szenen aus der hinduistischen und zum Teil auch aus der buddhistischen Mythologie zeigen, zum Beispiel Rama beim Töten des Dämonenkönigs Ravana, Vishnu im kosmischen Schlaf, aus dessen Bauchnabel neues Leben sprießt und Krishna, der von nackten Milchmädchen auf einen Baum gejagt wird.
Wir spazieren zu einem ummauerten Platz westlich des Khware Ghat, auf dem ein paar Schulkinder Fangen spielen. In der Mitte des Vierecks erhebt sich der dreistöckige, mit Schnitzereien reich verzierte Indreshwor Mahadev Tempel - die wohl älteste erhaltene Pagode Nepals, die im Jahr 1294 errichtet wurde. Auf dem Platz stehen auch zwei kleinere Tempel, der Unmatta Bhairav Mandir mit seinen holzgeschnitzten Figuren in den oberen Fenstern, sowie der Tola Narayan Mandir, in dem eine dunkle Vishnu-Statue die Insignien Wurfscheibe (Chakra), Keule (Gada), Lotusblume und Schneckenhorn (Shanka) in ihren vier Händen hält.
Ich statte dem kleinen Museum vor Ort einen Besuch ab, das mit interessanten Artefakten aus den vergangenen Jahrhunderten vollgestopft ist: Bildnissen von Gottheiten aus Stein, Terrakotta und Metall, Holzfiguren aus dem 15. Jahrhundert, diversen Utensilien für Zeremonien und Rituale, alten Manuskripten, Schwertern, Bügeleisen, Kämmen, Nagelschneidern, Spinnrädern und Musikinstrumenten, unheimlichen Masken... Nach dem Museumsbesuch schlendern wir noch an Gebäuden mit typischer Newari-Architektur vorbei und lassen uns schließlich vom Fahrer einsammeln, der uns nach Dhulikhel zurückbringt.
Den Rest des Nachmittags verbringen mein Mann und ich wieder vereint in der friedvollen Atmosphäre des Resorts mit seinen vielen hübschen Plätzchen. Beim Abendessen lassen wir uns heute Gerichte der westlichen Küche schmecken: Mozzarella als Vorspeise, Spargelsuppe als Zwischengang, Gemüsetortelloni bzw. Fisch als Hauptspeise und ein leckerer Käsekuchen als Nachtisch.